Editorial

Ambulant ist die neue Stoßrichtung

Gesundheitspolitik-- Jeder vierte medizinische Eingriff sollte laut dem Koalitionsvertrag in Zukunft ambulant erfolgen – ein Ziel, das zwar sinnvoll erscheint, aber nicht ohne Anstrengungen verwirklicht werden kann. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Entscheidungen der Politiker kompetent und besonnen getroffen werden.

Ein Kommentar von Prof. Tienush Rassaf und Prof. Meinrad Gawaz Veröffentlicht:
Anstehende Reformen des Gesundheitssystems beinhalten eine zunehmende Ambulantisierung.

Anstehende Reformen des Gesundheitssystems beinhalten eine zunehmende Ambulantisierung.

© Thomas Reimer/stock.adobe.com

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ambulantisierung ist die neue Stoßrichtung der Gesundheitspolitik, um den zukünftigen Herausforderungen der stationären Patientenversorgung gerecht zu werden. Die neue Bundesregierung hat die Ambulantisierung im Koalitionsvertrag verankert. Eine Ambulantisierung von 25 % wird angestrebt, mit dem Ziel stationäre Bettenkapazitäten zu entlasten, strukturelle Veränderungen in der Krankenhauslandschaft zu erwirken und die Patientenversorgung zu verbessern.

Prof. Dr. med. Meinrad Gawaz-- Universitätsklinikum Tübingen

Prof. Dr. med. Meinrad Gawaz-- Universitätsklinikum Tübingen

© Gawaz

Prof. Dr. med. Tienush Rassaf-- Universitätsklinikum Essen

Prof. Dr. med. Tienush Rassaf-- Universitätsklinikum Essen

© Rassaf

Alles oberflächlich betrachtet gute und sinnvolle Ziele. Deutschland leistet sich im internationalen Vergleich eine der höchsten Kapazitäten an Krankenhausbetten pro Einwohner und investiert einen erheblichen Anteil des Bruttoinlandsprodukts in das Gesundheitssystem. Unser derzeitiges System hat aber auch bewiesen, dass es besonders in Krisenzeiten wie während der Pandemie ganz gut geeignet ist, zu reagieren und die Patientenversorgung zu gewährleisten. Sicher ist aber noch Luft nach oben.

Sollten die Konzepte der Bundesregierung in gesetzlichen Vorgaben münden, wird dies seit der Einführung des DRG-Systems 2003 die größten strukturellen Veränderungen unseres Gesundheitssystems zur Folge haben. Eine erfolgreiche Ambulantisierung der Medizin ist aber nur möglich, wenn nicht bloß Bettenkapazitäten geschlossen werden, ohne Strukturen vorher aufzubauen, die dem ambulanten Konzept gerecht werden. Auch eine Verschiebung der Patientenversorgung in den ambulanten Bereich wird den Mangel an ärztlichen und pflegerischen Fachkräften nicht wesentlich beeinflussen. Eine Reduktion der Bettenkapazitäten wird nicht das Problem der poststationären Weiterbetreuung vor allem von älteren Patienten lösen, sofern nicht nachhaltige Betreuungskonzepte im Bereich von Pflegeheimen und betreute Wohnungseinheiten geschaffen sind – ohne Zweifel eine riesige Herausforderung. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Entscheidungen der Gesundheitspolitiker kompetent und besonnen getroffen werden, nach dem Wahlspruch: „quidquid agis, prudenter agas et respice finem“ (für die Nichtlateiner bei Interesse einfach zur Übersetzung in eine Suchmaschine eingeben).

In dieser Cardio News greifen wir das wichtige Thema der Ambulantisierung in der Kardiologie auf. Ziel ist es, verschiedene Einschätzungen von Fachkollegen und Fachkolleginnen mitzuteilen und zu diskutieren. Auch wenn beschlossen ist, dass die neuen AOP-Vorschriften ab 1. Januar umzusetzen sind, sind die genauen Punkte und Veränderungen noch unklar. Oberstes Ziel muss bleiben, die Versorgungsqualität nicht zu gefährden. Denkbar und medizinisch vernünftig für eine Reihe von Patientinnen und Patienten ist die ambulante Therapie der koronaren Herzerkrankung mit Stents. Das Blutungsrisiko besonders bei radialem Zugang ist kalkulierbar, subakute Stentthrombosen unter adäquater Thromboseprävention sind sehr selten. Vernünftig scheint der Passus in der noch unklaren Gesetzesvorlage zu sein, dass letztlich Patienten und Ärzte entscheiden, ob eine ambulante Behandlung im Einzelfall möglich und sinnvoll ist. Dies ermöglicht einen wichtigen Ermessensspielraum für Arzt und Patient – nur die beiden können einschätzen, was die beste Behandlung ist.

Eine große Zahl kardiologischer stationärer Aufnahmen erfolgt akut über die Notaufnahme, mit steigender Tendenz. Besonders hat die Kardiologie durch den Aufbau funktionierender und zertifizierender Brustschmerz-Ambulanzen und den Chest Pain Units (CPU) wertvolle Vorbereitungen getroffen. Die CPU hat sich allerorts zu einem Dreh- und Angelpunkt sowohl für die Notaufnahme als auch für das Klinikum insgesamt entwickelt und ist nicht mehr wegzudenken. Die zielgerichtete Diagnostik und kompetente Entscheidung in der CPU erübrigt oft eine weitergehende stationäre Versorgung und ist entscheidend zur Vermeidung von Fehlbelegungen.

Ganz entscheidend für eine erfolgreiche Ambulantisierung in der Herzmedizin wird die Betreuung von Patienten mit Herzinsuffizienz sein. Auch hier hat die DGK zukunftsträchtige und wegweisende Strukturen in Form von überregionalen Herzinsuffizienz-Netzwerken aufgebaut. Zunehmend ist die stationäre Aufnahme von dekompensierten Herzinsuffizienzpatienten eine tägliche Herausforderung für den Klinikbereich. Spezialisierte Herzinsuffizienzambulanzen können erfolgreich ungeplante stationäre Aufnahmen vermeiden oder zielgerichteter steuern. Hier sollten auch die telemedizinischen Möglichkeiten zunehmend Verwendung finden, falls sie adäquat finanziert werden. Vieles mehr zu diesem sehr wichtigen Thema können Sie dieser Cardio News entnehmen.

Lebensqualität als Endpunkt wichtig – auch bei Klappenerkrankungen

Nicht nur die Pharmakotherapie der Herzinsuffizienz hat in den letzten Jahren erhebliche Veränderungen erlebt. Eine nach wie vor unterschätzte Bedeutung für Progression und Prognose besteht durch die oft sehr dynamisch und variablen Insuffizienzen der AV-Klappen. Viele Patienten mit fortgeschrittener Herzinsuffizienz weisen kombinierte relevante Mitral- und Trikuspidalinsuffizienzen auf, die unbehandelt wesentlich zu rezidivierenden Dekompensationen trotz optimaler Pharmakotherapie und intensiver Betreuung führen. Das Konzept zur gleichzeitigen interventionellen Versorgung beider Klappenvitien ist attraktiv und wird zunehmend durchgeführt. Obwohl klinische Studien derzeit fehlen, wird dieses Vorgehen bei einer Subgruppe von Betroffenen die Zukunft sein. Auch wenn wir gewohnt sind, uns in kardiologischen Studien immer auf die Sterblichkeit zu fokussieren, steht bei den meisten Herzinsuffizienzpatienten subjektiv fast immer die Lebensqualität im Vordergrund und die Zeit außerhalb des Krankenhauses.

Welche weiterführende nicht invasiven Ischämiediagnostik bringt den bestmöglichen Erkenntnisgewinn: Stressechokardiografie, Kardio-MRT oder Myokardszintigrafie? Diese Entscheidung ist sicher sehr individuell. Interessant ist, dass die gut etablierte Myokardszintigrafie in Kliniken und im niedergelassenen Bereich einen festen Stellenwert besitzt und erhalten hat, wie in einer jüngsten Umfrage gezeigt wird. Die Methode ist sehr fundiert, etabliert, wenig personalintensiv und oft schnell verfügbar.

Die kardiologische Betreuung von onkologischen Patienten wird zunehmend komplexer und erfordert eine kontinuierliche Weiterbildung im Bereich onkologischer Therapieprinzipien. Nur wenige antiproliferative Substanzen – wenn überhaupt – sind „herzneutral“. Zunehmend werden Patienten mit Knochenmarkserkrankungen zelltherapeutisch behandelt. Die CAR-T-Zelltherapie scheint eine erfolgreiche onkologische Behandlungsmöglichkeit darzustellen, jedoch mit einem ernst zu nehmenden Potenzial der Kardiotoxizität, wie in einer jüngst veröffentlichten Studie belegt. Eine umfassende begleitende kardiologische Betreuung erscheint demnach sinnvoll und notwendig zu sein, wie auch in den aktuellen Leitlinien empfohlen.

Einfach mal mehr miteinander sprechen ...

Trotzdem das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich einen hohen Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts investiert, scheint die Krankenhaussterblichkeit nach Herzinfarkt gemäß einer Analyse der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Vergleich zu benachbarten Ländern wie den Niederlanden hoch zu sein. Wie kann das sein trotz hoher Dichte an Herzkatheterlaboren und hoher Rate an akuten Koronarinterventionen? Werden unsere Patienten tatsächlich schlechter versorgt? Eine schwierige Frage. Ein Erklärungsversuch in dieser Cardio News versucht die OECD-Ergebnisse zu werten. Interessant ist die Tatsache, dass die Liegedauer in Deutschland, Estland und Litauen nach Infarkt im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern sehr hoch ist. Da in der OECD-Analyse nur die Klinikmortalität beurteilt wird, könnte es sein, dass eine verkürzte Liegedauer zwar die Krankenhausmortalität beeinflusst, aber Aussagen über die Gesamtsterblichkeit nicht beantwortet. Trotzdem müssen wir uns Gedanken machen, wie wir die Versorgung trotz CPU und flächendeckender Herzkatheterlabore optimieren können.

Nach einer weltweiten Umfrage berichtet ein hoher Prozentsatz an Kardiologinnen und Kardiologen über Überlastung, Depressionen und Burn-out-Symptomen. Fehlt es uns Kardiologen jetzt auch zunehmend an Empathie den Patienten gegenüber? Brauchen wir professionelle Hilfe und Kommunikationstraining, um den Klinikalltag bewältigen zu können? Eine JAMA-Publikation belegt, dass ein Kommunikationstraining hilfreich in der Gesprächsführung mit dem Patienten sein kann. Ist ein fehlendes Kommunikationsvermögen die Folge einer vermehrten Digitalisierung am Arbeitsplatz? Sicherlich kommt das persönliche Patientengespräch immer zu kurz zugunsten der zunehmenden bürokratischen Aufgaben, die wir tagtäglich bewältigen müssen.

Daher gilt auch hier: einfach mal mehr miteinander sprechen ... Viel Erkenntnisgewinn und Denkanstöße beim Lesen dieser Cardio News

Herzliche Grüße

Tienush Rassaf und Meinrad Gawaz

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