Chancen und Möglichkeiten

Alter Wein in neuen Schläuchen?-- Wohl kaum! Beim Dauerbrenner ASS tut sich z. B. eine neue Indikation auf: In einer Studie konnte die regelmäßige Einnahme von ASS die Größenprogredienz bei abdominellen Aneurysmata verzögern. Auch das Belastungs-EKG könnte im Rahmen der ANOCA-Diagnostik eine Renaissance erleben.

Von Prof. Tienush Rassaf und Prof. Meinrad Gawaz Veröffentlicht:
Chancen und Möglichkeiten

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Prof. Dr. med. Meinrad Gawaz--Universitätsklinikum TübingenGawaz

Prof. Dr. med. Meinrad Gawaz--Universitätsklinikum Tübingen

© Gawaz

Prof. Dr. med. Tienush Rassaf--Universitätsklinikum EssenRassaf

Prof. Dr. med. Tienush Rassaf--Universitätsklinikum Essen

© Rassaf

Die COVID-19-Pandemie ist aus unserer Erinnerung schon fast verschwunden. Zumindest wird unser Alltag nur noch wenig damit konfrontiert. Gemäß wissenschaftlicher Datenbanken wie PubMed zeigte sich eine historisch einmalige Publikationsflut in den Jahren 2020 bis 2023 mit jetzt drastischer Abnahme. Unter kritischer Betrachtung haben jedoch die wissenschaftlichen Untersuchungen für die klinische Medizin eine überschaubare Erkenntniserweiterung gebracht. Vielleicht auch durch eine zu „schnelle Wissenschaft“ mit oft unkritischen Schlussfolgerungen. Oft anders zu bewerten sind die jetzt jüngst veröffentlichten Daten zu COVID-19, die wohlüberlegter erscheinen und „ordentliche“ Reviewprozesse durchliefen. Eine große sehr gut gemachte schwedische Kohortenstudie im Analysezeitraum des ersten COVID-19-Jahrs zeigt, wie vulnerabel unser Herz bei schweren Infektionen ist. Dies ist zwar nicht unbekannt und unerwartet, aber die große Zahl an paroxysmalen supraventrikulären Tachykardien im Rahmen einer SARS-CoV-2-Infektion ist erstaunlich und belegt, dass generell Betroffene mit systemischen Infektionen einer besonderen Beobachtung und Versorgung hinsichtlich Rhythmusstörungen bedürfen.

Cardiac Arrest Center

Über zwei Drittel überleben nach einer außerklinischen Wiederbelebung und erreichen das Krankenhaus. Aber ist das Leben danach auch lebenswert? Wie sind die neurologischen Komplikationen und Folgeschäden einzuschätzen? Eine retrospektive Analyse von Patienten nach erfolgreicher außerklinische Reanimation bei Herzkreislaufstillstand weist darauf hin, dass ein standardisierter Versorgungsablauf und ein gut organisiertes Zusammenwirken aller beteiligter medizinischer Erstversorger die Prognose der betroffenen Patienten verbessert. Ein Vergleich von medizinischen Zentren vor und nach Cardiac-Arrest-Center (CAC)-Zertifizierung zeigt, dass sich die neurologischen Folgestörungen in der Zeit nach einer CAC-Zertifizierung deutlich verbesserten. Die Überlebenswahrscheinlichkeit blieb jedoch unbeeinflusst. Diese Ergebnisse sollten eine Motivierung darstellen für alle Zentren, die noch keine CAC-Zertifizierung besitzen, dies zu erreichen.

Aspirin, das Wundermedikament

Seit der junge Chemiker Dr. Felix Hoffmann in Wuppertal zum ersten Mal den Wirkstoff Acetylsalicylsäure synthetisierte, hat Aspirin einen unvergleichliche medizinische Erfolgsgeschichte beschritten. Aspirin rettet Leben und ist aus der kardiovaskulären Medizin nicht wegzudenken. Zusätzlich erscheint Aspirin einen Überlebensvorteil für Patienten mit onkologischen Erkrankungen zu bieten, insbesondere bei gastrointestinalen Tumoren. Wirkt Aspirin auch positiv bei Patienten mit Aortenaneurysmata? Zumindest zeigen sich Hinweise aus einer retrospektiven Datenanalyse der Cleveland Clinic, dass die Größenprogredienz bei abdominellen Aneurysmata durch regelmäßige Einnahme von ASS verzögert werden könnte. Schwerwiegende Blutungsereignisse wurden in dieser Patientengruppe nicht erhöht. Auch wenn die Gesamtmortalität bei Patienten mit abdominellen Aneurysmata nicht beeinflussbar war durch ASS, ist die sekundärpräventive Verabreichung von Aspirin bei dieser Hochrisikogruppe sicherlich sinnvoll, nicht zuletzt aufgrund der sehr hohen Wahrscheinlichkeit einer vorhandenen koronaren Herzerkrankung.

Wiederbelebung des Belastungs-EKG

Die klassische Ergometrie verlor in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung und Ansehen. Viel zu unspezifisch, wenig aussagekräftig. Viel bessere Belastungstests, wenn auch viel aufwendigere, werden oft der klassischen Ergometrie vorgezogen. Ist das berechtigt? Viele Patienten leiden unter einer klassischen Angina pectoris, auch wenn es schon nach einer sorgfältigen Anamnese und klinischen Untersuchung klar ist, dass keine stenosierende koronare Herzerkrankung vorliegt. Insbesondere kann jedoch das klassische Belastungs-EKG bei Patienten mit einer sogenannten Angina pectoris und nicht obstruierten Koronararterien (ANOCA) hilfreich zur Diagnostik einer mikrovaskulären Dysfunktion sein. Diese Ansicht vertritt eine gut gemachte, wenn auch sehr kleine Studie aus London.

„Your first patient is you“

Diese Lebensempfehlung, welche anscheinend unter amerikanischen Medizinstudentinnen und -studenten vorherrscht, wird unserem Zeitgeist der Egozentrik, also zuerst ich und dann die anderen, gerecht. Es gab einmal eine Zeit, als der Arztberuf verbunden war mit Berufung, sozialem Engagement und Fürsorglichkeit anderen Mitmenschen gegenüber. Wichtige Fortschritte in der Medizin und auch für viele Patienten wurden durch Einzelleistungen von Ärztinnen und Ärzten erreicht, die nicht sich sondern das übergeordnete Ganze im Blickpunkt hatten. Es ist nachvollziehbar, dass durch unseren gesellschaftlichen Wandel mit Ökonomisierung und Herunterstufung des Arztberufes auf das Niveau eines Dienstleisters der Zufriedenheit im Beruf entgegenwirkt. Auch wenn keine kurzfristigen Lösungen in Sicht sind, müssen wir alle versuchen, die Sinnhaftigkeit des Arztberufes wieder in den Vordergrund zu stellen, damit der Patient „Arzt“ nicht den Alltag bestimmt.

Das Standardverfahren: interventionelle Therapie der Aortenklappe

Die TAVI wird dieses Jahr 22 Jahre jung. Im Jahre 2002 hat der Franzose Professor Alain Cribier zum ersten Mal erfolgreich einen Patienten mit TAVI behandelt. Diese herausragende Pionierleistung wurde gefolgt von einer rasanten „Pandemie“ der TAVI, die heute das Standardverfahren für die meisten Patienten mit kritischer Aortenstenose darstellt. Professor Cribier wurde anfänglich sehr kritisiert für seine Ansichten und Arbeiten. Er hat sich jedoch nicht beirren lassen und sein Ziel zur Verbesserung der Behandlungsoptionen für viele betroffene Patienten nicht aus dem Auge gelassen. Sein Erfolg gab ihm Recht, die Patienten und wir sind ihm zu großen Dank verpflichtet. Was wäre gewesen, wenn Professor Cribier zuerst an sich gedacht hätte? Herr Professor Cribier ist am 16. Februar dieses Jahr im Alter von 79 Jahren verstorben.

Die Trikuspidalklappe im Fokus der interventionellen Kardiologie

Auch wenn Cribier sich vornehmlich um die Aortenklappe verdient machte, war er bewusst oder auch unbewusst der Wegbereiter für weitere interventionelle Behandlungen von Klappenerkrankungen. Ein derzeitiger Schwerpunkt intensiver Forschung ist die Trikuspidalklappe, die zunehmend in der Fokus bei Patienten mit Herzinsuffizienz rückt. Patienten mit relevanter Trikuspidalinsuffizienz weisen eine sehr schlechte Prognose auf, die bisher her oft unterschätzt wurde. Die Trikuspidalinsuffizienz galt und gilt oft immer noch als „innocent bystander“ bei einfach kranken Patienten und wird oft dokumentiert aber in ihrer Konsequenz unbeachtet. Diese Ansicht ist jedoch im Wandel, nicht zuletzt durch die zunehmenden interventionellen Behandlungsmöglichkeiten. Wir sind zwar noch weit davon entfernt, die Komplexität der Trikuspidalinsuffizienz im Verlauf einer Herzinsuffizienz zu verstehen. Aber wir nähern uns langsam an, Patienten zu identifizieren, die von einer interventionellen Korrektur der Klappe profitieren. Hier sind jedoch noch viele klinische Studien notwendig. Ergebnisse laufender Studien werden schon 2025 zur Diskussion erscheinen.

Spezialisierung Herzinsuffizienz

Die Spezialisierung Herzinsuffizienz ist notwendig. Die Komplexität der Herzinsuffizienz erfordert für eine korrekte Behandlung das Zusammenwirken von unterschiedlichen kardiologischen und internistischen Kompetenzen. Dies wurde schon seit Jahren durch die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie erkannt. Der Aufbau von spezialisierten gut vernetzten Herzinsuffizienzregionen war sehr erfolgreich und hat vielerorts dazu geführt, dass spezialisierte Herzinsuffizienzpraxen mit regionalen und überregionalen Herzinsuffizienzzentren erfolgreich zusammenarbeiten. Die in den letzten Jahren hervorgebrachten Innovationen im Bereich der Herzinsuffizienz umfassen eine Vielzahl von pharmakologischen und interventionellen Möglichkeiten, die umfassend nur durch eine spezialisierte Ausbildung im Bereich der klinischen Kardiologie umgesetzt werden können. Deshalb ist es nicht nur vernünftig sondern auch zu fordern, dass an unseren Kliniken eine umfassende Ausbildung im Bereich der Herzinsuffizienz erfolgt. Eine rein technisierte interventionelle Ausbildung ist zwar oft attraktiv aber unzureichend und nicht zukunftsorientiert.

Wir sehen es wieder, viele neue und tolle Berichte aus der Herzmedizin, verbunden mit noch mehr Chancen und Möglichkeiten. Lassen Sie uns diese angehen

Herzliche Grüße

Tienush Rassaf und Meinrad Gawaz

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