Der Griff zum Rezeptblock kann nicht alles lösen

Prävention-- In der heutigen Zeit stehen uns viele Optionen zur Verfügung, um Menschen vor der Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu bewahren. Das ist erfreulich. Trotz allem sollten wir die Grundpfeiler der Prävention – Lebensstilmaßnahmen – nicht außer Acht lassen. Und daran hakt es bekanntlich oft.

Ein Kommentar von Prof. Tienush Rassaf und Prof. Meinrad Gawaz Veröffentlicht:
Lebensstilmaßnahmen sind neben der pharmakologischen Therapie nicht außer Acht zu lassen.

Lebensstilmaßnahmen sind neben der pharmakologischen Therapie nicht außer Acht zu lassen.

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Liebe Kolleginnen und Kollegen,

der schwäbische Pfarrer Sebastian Kneipp (bekannt durch die nach ihm benannten „Kneipp-Kuren“) hat schon im 19. Jahrhundert erkannt, dass „der Weg zur Gesundheit durch die Küche führt und nicht durch die Apotheke“.

Prof. Dr. med. Meinrad Gawaz-- Universitätsklinikum Tübingen

Prof. Dr. med. Meinrad Gawaz-- Universitätsklinikum Tübingen

© Gawaz

Prof. Dr. med. Tienush Rassaf-- Universitätsklinikum Essen

Prof. Dr. med. Tienush Rassaf-- Universitätsklinikum Essen

© Rassaf

Anders als unsere Vorfahren leben wir in einer Zeit, in der wir uns keine Gedanken machen müssen, wie wir ausreichende Ernährung sicherstellen. Das gegenwärtige Problem ist vielmehr, dass wir zu viel Kalorien zu uns nehmen und das sehr oft in einer ungesunden Darreichungsform. Die Folgen sind klar ersichtlich, spätestens beim Freibadbesuch. Ein großer Anteil unserer Patientinnen und Patienten sind fehlernährt oder nehmen diätetische Maßnahmen nicht nachhaltig ernst im Therapiekonzept nach Diagnose einer relevanten Herz-Kreislauf-Erkrankung. Der Griff zum Rezeptblock mit Verschreibung eines Antihypertonikums, einer Lipidtherapie oder gar einer Spritze zur Gewichtsreduktion erscheint pragmatischer und wahrscheinlich vorübergehender erfolgreicher. In der vorliegenden CardioNews wird einmal Grundsätzliches zur Ernährung klar verständlich mit logischen Handlungsanweisungen aufgearbeitet.

Die häufigsten Folgen einer Fehlernährung sind Diabetes und Lipidstoffwechselstörungen. Veränderungen der Lebensstilmaßnahmen ist ein Grundpfeiler einer individualisierten Lipidtherapie, gefolgt von einer zielgerichteten pharmakologischen Lipidsenkung. Diese wird sich künftig nicht nur auf die LDL-Senkung beschränken, sondern durch neue Medikamente auch auf Triglyzeride und Lipoprotein(a). Zumindest Risikopatienten mit drohender oder manifester koronarer Herzerkrankung werden davon wesentlich profitieren.

Doch wer ist ein Risikopatient? Sind die etablierten klassischen Risikoscores geeignet für eine rechtzeitige und effektive kardiovaskuläre Prävention? Reichen demografische Kriterien und laborchemische Biomarker aus oder sollen/müssen Bildgebungsverfahren (z. B. Gefäßultraschall, CT-Angiografie) ergänzend hinzugezogen werden? Sicher ist, dass nicht zuletzt aus ökonomischer Sicht nicht alles bei jedem gemacht werden kann. Eine individualisierte Risikoerkennung erfordert aber zweifellos einen multimodalen Diagnosealgorithmus.

Es braucht neue Präventionsansätze

Eine weitere tiefere Risikodiagnostik ergibt sich durch zunehmende Möglichkeiten in der Rhythmusdiagnostik und der Genomsequenzierung. Vor allem bei jungen Patienten mit fraglicher Herzmuskelerkrankung und auffälliger Familiengeschichte sind unsere herkömmlichen Diagnosekriterien beschränkt. Auch eine erweiterte kardiale Bildgebung erbringt oft Normalbefunde, die präventive Therapien nicht rechtfertigen. Inwieweit hier kontinuierliche Rhythmusüberwachung und weitere Wearables-Daten helfen, bleibt abzuwarten. Dasselbe gilt für die Gendiagnostik bei asymptomatischen und gesunden Personen, die aufgrund eines ungeklärten familiären plötzlichen Todesfalles zur kardiologischen Beratung kommen. Ein sehr schwieriges Feld der Herz-Kreislauf-Medizin. Unser Ziel ist es, deutlich älter und vor allem gesund älter zu werden (Stichwort „longevity“). Dieses Ziel werden wir mit den klassischen Präventionsstrategien nicht erreichen. Es müssen neue, disruptive Ansätze entwickelt werden. Die Nutzung KI-basierter Ansätze ist keine Zukunftsvision, sondern wird uns sehr bald im Alltag begleiten und die kardiale Diagnostik verbessern. Durch Kombination neuartiger Biomarkerstrategien mit multimodaler Bildgebung und Techniken basierend auf KI-Algorithmen ist es das Ziel, das individuelle Risiko spezifisch zu erfassen und dem Patienten so eine personalisierte Risikofaktormodifikation zu ermöglichen. Zudem sollen mögliche pathologische Veränderungen identifiziert werden, ehe diese klinisch apparent werden.

Fragen zur Aortenklappentherapie

Was tun bei asymptomatischer hochgradiger Aortenklappenstenose? Was tun bei mittelgradiger low-flow/low-gradient-Stenose? Reicht ein Zuwarten, bis sich Symptome entwickeln, aus oder sollte früh eine Therapie erfolgen? Gemäß zweier klinischer Studien (RECOVERY, AVATAR) bestehen zumindest für die chirurgische Behandlung gute Hinweise, dass Patientinnen und Patienten von einer frühen Klappentherapie profitieren. Belegbare Daten für die interventionelle Therapie gibt es jedoch derzeit nicht. Mit Spannung werden wir die Ergebnisse der laufenden TAVI-Studie abwarten müssen.

Neben der psychischen Belastung (s. letzte CardioNews-Ausgabe) ist die körperliche Belastung ein ernst zunehmendes Thema für invasiv tätige Kollegen. Das lange konzentrierte Arbeiten und Stehen bei Interventionen führt nicht selten zu Haltungsschäden und ernsten orthopädischen Symptomen. Dies wird aggraviert durch das Tragen von schweren Bleischürzen. Alle interventionell tätigen Kardiologen sollten neue Systeme zum Strahlenschutz zunehmend einführen. Damit wird im Herzkatheterlabor die Arbeitssicherheit deutlich verbessert und das Personal entlastet. Denn wir sollten zum Wohle sowohl für unsere Patienten als auch für uns selber arbeiten.

Noch immer gibt es keinen kardioprotektiven Ansatz, um den Reperfusionsschaden im Rahmen der Herzinfarkttherapie zu reduzieren. Alle bisherigen Ansätze haben am Ende nicht den Sprung in Klinik geschafft. Schafft das die ischämische Präkonditionierung? Experimentelle Befunde haben dieses Konzept immer wieder propagiert. Große Studien verliefen aber auch hier überwiegend enttäuschend. Die Ergebnisse einer derzeit laufenden Studie werden daher mit Spannung erwartet. Und es gibt weitere Hoffnung: Viele weitere neuartige Ansätze befinden sich in der Pipeline ... per aspera ad adstra.

Ist die Pulsed-Field-Ablation der Durchbruch in der invasiven Vorhofflimmern-Therapie? Seit Jahren werden immer wieder Hoffnungsträger von der Industrie angeboten (Kryoablation, druckgesteuerte Katheter, Robotor-assistierte Verfahren). Keines dieser Verfahren konnte im Klinikalltag eine deutliche Überlegenheit im Vergleich zur Radiofrequenzablation zeigen. Ist dies für die Pulsed-Field-Ablation anders? Die Euphorie ist sehr groß, der physikalische Ansatz ist überzeugend, die anfänglichen Studiendaten und Erfahrungen sind sehr gut. Trotzdem bleibt abzuwarten, wie die Methode künftig beurteilt werden kann.

Die Kardioonkologie wird immer wichtiger, sowohl bei jungen als auch älteren Patienten. Während für erwachsene onkologische Patienten in den letzten Jahren sehr gute Konzepte und Leitlinien entwickelt wurden, sind in der Kinderonkologie weniger Anstrengungen unternommen worden. Dies hat sich durch neue Publikationen und Positionspapiere geändert. Nur ein Zusammenwirken verschiedenster Disziplinen wird den Kindern gerecht. Da die Kinder erwachsen werden, werden weitere Aufgaben auf die Erwachsenenkardiologen zukommen. Hier werden sich dann ähnliche Entwicklungen wie bei der Versorgung von EMAH-Patienten ergeben.

Nationale Herz-Allianz gestartet

Früherkennung der familiären Hypercholesterinämie (FH) und der asymptomatischen Herzinsuffizienz: Die Nationale Herz-Allianz (NHA) ist eine Initiative aller Fachgesellschaften im Bereich der Herz-Kreislauf-Medizin mit dem Ziel, durch bestmögliche Früherkennung die zukünftige Morbidität bei Betroffenen zu reduzieren. Eine rechtzeitige FH-Diagnose hat großes Potenzial, Folgeerkrankungen im Bereich der Atherosklerose zu verzögern. Ebenso der frühe Nachweis einer latenten Herzinsuffizienz. Hier haben wir einen sehr potenten Biomarker zur Verfügung (NT-proBNP), der sehr früh eine myokardiale Dysfunktion aufzeigen kann. Fraglich bleibt, ob die Krankenkassen dann eine pharmakologische Primärprävention übernehmen. Die NHA könnte dazu wichtige Daten und Argumente liefern.

Möglichst wenig Plättchenhemmer nach Interventionen – dieses Thema ist sehr aktuell. Die Ergebnisse der HOST-IDEA-Studie erbringt einen weiteren Hinweis, dass die Deeskalationsstrategien bei vielen Patienten sinnvoll und klinisch ausreichend ist. Die Daten sind überzeugend und werden besonders den älteren Patienten mit erhöhter Blutungsneigung gerecht. Gängige Praxis ist jedoch, dass wir alle sehr an dem einfachen Schema „6 oder 12 Monate DAPT nach PCI“ hängen und im Alltag wenig individualisierte Empfehlungen geben.

Die 89. DGK-Jahrestagung mit dem Schwerpunkt Herzinsuffizienz steht vor der Tür und bietet wie jedes Jahr ein herausragendes Forum, experimentelle und klinische Forschungsergebnisse zu diskutieren. Nur der kritische Diskurs bringt unser Fach weiter und führt kontinuierlich zur Verbesserung. „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine“, sagte Bundeskanzler Dr. Helmut Schmidt. Diskutieren – und ein wenig streiten – können wir Kardiologinnen und Kardiologen sehr gut, und darauf freuen wir uns, nicht nur in Mannheim

Herzliche Grüße

Tienush Rassaf und Meinrad Gawaz

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