Die Präventionskardiologie Jetzt und Morgen

Zukunft der Kardiologie-- Eigentlich gibt es genügend qualitative Studien, die belegen, dass Präventionsmaßnahmen, z. B. Lebensstiloptimierung oder pharmakologische Therapien, das Leben verlängern können. Trotzdem ist die Situation in Deutschland alles andere als zufriedenstellend. Was muss jetzt und in Zukunft für die kardiovaskuläre Erkrankungsverhinderung getan werden?

Ein Leitartikel von PD Dr. Rona Reibi Veröffentlicht:
Ein Apfel am Tag... Ernährung gehört wie Sport zu einem herzgesunden Lebensstil, doch an der Umsetzung hapert es.

Ein Apfel am Tag... Ernährung gehört wie Sport zu einem herzgesunden Lebensstil, doch an der Umsetzung hapert es.

© Getty Images/iStockphoto

Das biologische Alter eines Organismus wird vorwiegend durch drei Parameter bestimmt: die genetische Prädisposition, die kurative Medizin und den Lebensstil, respektive Umweltfaktoren. Die Erbanlagen entscheiden zu 28 % über die Prognose, die kurative Medizin zu lediglich 10 %. Fundamental ist, wo und wie das Leben geführt wird. Ziel der Präventivkardiologie ist daher die möglichst frühe und vollständige Erfassung und Therapie proatherogener Risikokonstellationen, um eine Manifestation sowie Progression vaskulärer Erkrankungen zu senken.

Die modifizierbaren Risikofaktoren

Bereits 2004 konnten in der INTER-HEART-Studie belastbare populationsbasierte Daten zur relativen Wertigkeit von neun modifizierbaren Variablen für die Erstmanifestation eines akuten Koronarsyndroms erhoben werden, die für 90 % des kardialen Gesamtrisikos stehen. Kontraintuitiv ist nicht primär der Nikotinabusus, sondern die Dyslipidämie maßgeblich für die Atherosklerose verantwortlich, gefolgt von psychosozialen Problemen, abdomineller Adipositas und arteriellen Hypertonie.

PD. Dr. Rona Reibis Kardiologische Gemeinschaftspraxis in Potsdam

PD. Dr. Rona Reibis Kardiologische Gemeinschaftspraxis in Potsdam

© Reibis

In Deutschland sind aktuell 23 % der Männer und 24 % der Frauen adipös (BMI ≥ 30 kg/m2). Der Anteil an Rauchern steigt nach Angaben der Deutschen Befragung zum Rauchverhalten (DEBRA) seit einigen Jahren wieder auf jetzt 36,2 %. Beides wird durch die COVID-19-Pandemie aggraviert. Die Übergewichts- und Adipositasprävalenz im Kindes- und Jugendalter weitet sich aus, ist jedoch meist ein Epiphänomen tiefgreifenderer psychosozialer und Verhaltensprobleme. Gewichts- und altersabhängig liegt die Prävalenz der arteriellen Hypertonie in Deutschland bei 30–50 %. Mittlerweile ist weltweit jeder fünfte Todesfall ernährungsassoziiert, wobei die Differenzierung zwischen Assoziation und Kausalität auch in korrekt konzipierten Ernährungsstudien (z. B. PREDIMED oder PURE) problematisch sein kann. Für alle diese Faktoren (und für deren Optimierung) besteht eine gesicherte Evidenz zum spezifischen Einfluss auf die Gesamtrisikokonstellation. Eine antihypertensive, lipidmodifizierende, antidiabetische und antithrombotische Medikation stellen neben der Lebensstiloptimierung die Basis in der Primär- und Sekundärprävention dar.

Kardioprotektiver, nachhaltiger Lebensstil

Einen nachhaltigen Lebensstil zu implementieren, ist fordernd, aber effektiv. So senkt bereits eine moderate Gewichtsreduktion um 2–4 kg laut einer Metaanalyse von 2017 die Gesamtmortalität um 18 %, eine Nikotinkarenz als potenziell wirksamste primärpräventive Maßnahme halbiert die kardiovaskuläre Ereignisrate. Da jedoch bereits eine Zigarette pro Tag ca. 50 % des Exzessrisikos durch den Nikotinabusus determiniert, ist nur eine konsequente Karenz weiterführend.

In der Nurses‘ Health Study konnte allein durch einen protektiven Lebensstil die Lebenserwartung um 10,7 Jahre gesteigert werden. Unter dem Begriff der „Life‘s Essential 8“ hat die AHA 2022 einen Score erstellt, der 8 Komponenten des herzgesunden Lebensstils umfasst: Nikotinkarenz, BMI 18,5–24,9 kg/m2, körperliche Aktivität 150 min/Tag moderat, respektive 75 min/Tag anstrengend, Lipidstatus, Glukosespiegel, Blutdruckkontrolle, Schlafdauer sowie eine qualitativ hochwertige Ernährung. Auf diesen können Patientinnen und Patienten selbst online im Rahmen des Empowerments zugreifen. Diese Parameter gehen über die kardiovaskuläre Gesundheit hinaus; sie ermöglichen einen Erhalt der Kognition, Mobilität und im hohen Alter eine lange Selbstbestimmtheit.

Dominierende Rolle der Lipide

Während viele kardiovaskuläre Risikofaktoren lebensstilassoziiert sind, ist eine Hypercholesterinämie überwiegend hereditär bedingt und nicht pharmakologisch nur gering modifizierbar. Vergleichbar zu den „pack-years“ beim Nikotinkonsum ist eine kumulative LDL-C-Expositionsschwelle (ca. 5.000 mg-years) berechnet worden, ab der von einer Entstehung manifester Plaques auszugehen ist. Dies ist insbesondere für Patienten mit einer familiären Hypercholesterinämie entscheidend, da sich hier bereits frühzeitig die Indikation zur konsequenten Lipidtherapie ergibt. Basierend auf randomisierten prospektiven Studien wurden in den 2019 ESC/EAS-Leitlinien risikoadaptierte Zielwerte in der Primär- und Sekundärprävention definiert. In der letzten Dekade haben innovative und prognoserelevante Therapiestrategien in die Routine Einzug gehalten mit allerdings noch hohem Verbesserungspotenzial in der praktischen Umsetzung.

Künftige Risikofaktoren

In die kardiovaskuläre Prävention müssen in der Zukunft verstärkt neue Parameter einbezogen werden. Dies umfasst klimatische und Umweltparameter wie Hitze, Kälte und Feinstaubbelastung, sozioökonomische und inflammatorische Parameter sowie Faktoren, die sich auf das sich verändernde Arbeitsumfeld beziehen. Digitalisierung, Informationsüberlastung, Arbeitsverdichtung und ständige Erreichbarkeit bergen ein hohes Potenzial für Stresschronifizierung. Für Patienten mit Migrationshintergrund ist der Zugang zu Präventionsmaßnahmen häufig eingeschränkt. Insgesamt besteht hier Bedarf nach multimodalen Strategien, die sich auf ihre Effektivität und Nachhaltigkeit prüfen lassen müssen.

Herausforderungen der Zukunft

Hocheffektive Pharmakotherapien und interventionelle Verfahren ermöglichen ein Langzeitüberleben herzkranker Patientinnen und Patienten. Aufgrund limitierter Ressourcen ist jedoch auch ein primärpräventiver Ansatz geboten. Damit eine Umsetzung gelingt, muss dieser realistisch bleiben. Bekanntlich ist eine tägliche Schrittzahl von 10.000–12.000 mit der geringsten Inzidenz kardiovaskulärer Erkrankungen assoziiert – selten umsetzbar im Berufsalltag. Der 2021 publizierte ESC SCORE2 (respektive SCORE2-OP) ermöglicht eine dezidierte Berechnung des kombinierten 10-Jahres-Morbiditäts-Mortalitäts-Risikos, er ist aber in der täglichen Routine unpraktikabel. Exakte LDL-C-Zielwertempfehlungen liegen vor, die Da-Vinci-Studie zeigt jedoch eine ernüchternde Rate von 33 % Zielwerterreichung in der Gesamtgruppe und von 18 % in der Gruppe mit sehr hohem kardiovaskulären Risiko (< 55 mg/dl). Gerade sozioökonomisch benachteiligte Patienten, die finanziell besonders unter den jetzigen geopolitischen Gegebenheiten leiden, weisen oft bereits in jungen Jahren eine deletäre atherogene Risikolast auf, die schwer einer Modifikation zugänglich ist.

Die Bewahrung der Gesundheit als gesamtgesellschaftliches Ziel muss möglichst früh initiiert und verstetigt werden. Ähnlich wie onkologische Früherkennungsangebote sollten kardiopräventive Programme der Krankenkassen verstärkt in Anspruch genommen werden. Diese erfassen standardisiert die Risikokonstellation der Patienten, sollten aber tatsächlich in die erforderlichen therapeutischen Konsequenzen münden. Aufgrund zunehmender Verdichtung des ärztlichen Alltages ist alternativ die Betreuung dieser Patienten durch sog. kardiovaskuläre Präventions-Assistenten zu überdenken, wobei die aktuelle Evidenz sich überwiegend auf die Sekundärprävention richtet.

Es mangelt nicht an hochqualitativen Studiendaten. Es bedarf jedoch sowohl der übergeordneten, gesellschaftspolitischen Unterstützung sowie einer Akzeptanz seitens der Mediziner und Patienten für das elementare Prinzip einer Erkrankungsverhinderung und nicht ausschließlich der Erkrankungstherapie.

Literatur bei der Verfasserin

Kontakt-- PD Dr. Rona Reibis, Kardiologische Gemeinschaftspraxis, Am Park Sanssouci Potsdam,

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