Die nächste Phase der Revolution

Proteste im Iran-- Seit einem halben Jahr lehnt sich Bevölkerung im Iran gegen das unterdrückende Regime auf. Inzwischen sind die Bilder von den Protesten, die uns in Deutschland erreichen, weniger geworden. Die Revolution ist deshalb aber nicht zu Ende … im Gegenteil.

Ein Leitartikel von Maryam Koohestanian Veröffentlicht:
Proteste im Iran gegen die Repressionen des Regimes

Proteste im Iran gegen die Repressionen des Regimes

© ZUMAPRESS.com / Social Media / picture alliance

Heute ist der 13. März 2023. Heute vor sechs Monaten begann ein neues Zeitalter. Am 13. September 2022 wurde die 22 Jahre alte Kurdin Jina Mahsa Amini aufgrund ihres inkorrekt sitzenden Kopftuches von der sog. Sittenpolizei in Teheran festgenommen und so stark misshandelt, dass sie noch am selben Tag ins Koma fiel. Am 16. September wurde ihr Tod festgestellt, sie starb an den Folgen ihres Schädel-Hirn-Traumas. Laut den iranischen Behörden war die Todesursache eine Hypoxie in Folge eines Herzinfarkts – Videos und Zeugen berichten anderes.

Heute und hier ist der richtige Moment, kurz zurückzuschauen – zu resümieren: Laut der „Human Rights Activists News Agency“ im Iran sind bisher 530 Menschen bei den Protesten gestorben. Vier verhaftete Protestierende, von deren Exekution man weiß, wurden hingerichtet. Die Dunkelziffer wächst. Über 19.000 Menschen wurden bisweilen verhaftet.

Ein kurzes Intro zur Geschichte des Irans

Seit 44 Jahren lebt das Land unter einer schweren, bleiernen Glocke. Sie wird mit unheimlichen Druck unten gehalten und über dem iranischen Volk. „Das iranische Volk“, bestehend aus über 20 Völkergruppen, ist ein Vielvölkerstaat. Die einzelnen Gruppen werden jedoch nicht als solche anerkannt, sie werden nur geduldet und sie erlitten in den letzten vier Jahrzehnten immer wieder grausame Repressionen. So bebt in Kurdistan, im Nordwesten des Irans, das Epizentrum dieser Revolution. Der lange, starke, gewaltsame und gnadenlose Arm, der diese Glocke über dem Volk nach unten stülpt, ist der Arm der Mullahs. Konservative Kleriker stehen an der Spitze des Landes, an vorderster Front Ayatollah Khomeini, der mit der Revolution 1979 am 11.02.1980 eingesetzt wurde und an dessen Stelle nach seinem Tod 1989 Ayatollah Khamenei trat, der seither das Oberhaupt darstellt. In der Hand des Ayatollah sind auch die Revolutionsgarden: eine elitäre Einheit zum Schutz der Revolution (von 1979), mittlerweile ein regulär exekutives Element der theokratischen Autokratie Irans, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn die Struktur des Islamistischen Staates in Gefahr gebracht werden könnte. Gemeinsam pressen sie eine Glocke über die ca. 85 Millionen im Land. Rutscht am Rande ein Einzelner durch, sucht nach einem Ausweg oder möchte sich der Hand des Staates entziehen, wird derjenige geschnappt.

Die Bleiglocke kommt scharf wie eine Klinge über demjenigen nieder und sorgt für Ruhe. Klingt harsch, doch so in etwa muss man sich die Entität des Islamischen Regimes, die Legitimation dessen, vor Augen führen. Nicht etwa durch seine Bürger ist dieses System legitimiert, sondern durch Oppression und falsche Propaganda. Die Methodik des iranischen, autokratischen Regimes ist rigoros. Ab und zu verschwindet einfach jemand. Im besten Falle wird die Familie der verschwundenen Person darüber in Kenntnis gesetzt, dass ihr Angehöriger vom Hochhaus gesprungen oder etwa im Fluss ertrunken sei. In anderen Fällen aber wandern diejenigen ins schreckliche Evin-Gefängnis im Norden Teherans oder in eine andere der vielzähligen Foltereinrichtungen, mit denen das islamische Regime um Khamenei versucht, sich zu erhalten. Hat man Glück, darf ein Angehöriger freigekauft werden für horrende Gebühren, die Teil der Struktur sind und dafür sorgen, dass die Gefängnisse seit jeher zum Anschlag gefüllt sind.

Zurück ins Jetzt: Eine neue Phaseder Revolution hat begonnen

„Die Revolution ist ein Marathon“, das sagte mir mein Vater schon im Oktober. „Sie wird dauern, zehren, und wird vom Blut der Protestierenden gespeist.“ Im Herbst und Winter letzten Jahres konnten wir vor allem eines sehen, wenn wir uns die Bilder, die spärlich hier in Deutschland ankamen, ansahen: Menschenmassen auf den Straßen. Frauen, die ihre Kopftücher vom Kopf reißen, sie anzünden und um das Feuer tanzen, Studierende, die verschleppt werden und um Hilfe schreien, Menschen, die nachts vom Balkon „Tod dem Diktator“ rufen.

Diese Bilder haben nachgelassen. Trotzdem sollten wir uns bewusst machen, dass das kein Ende der Proteste bedeutet, kein Aufgeben der Menschen.

Wir befinden uns in einer neuen Phase der Revolution. Kürzlich wurde in einer Studie erfasst, dass rund 80 % der Menschen im Iran, wenn ein freies Votum stattfände, sich gegen das jetzige Islamische Regime entscheiden würden. 50 Millionen der dort lebenden 85 Millionen Menschen sind unter 30 Jahre alt – sie sind aufgewachsen in einem System der Unterdrückung und der Angst. Mit der minütlich steigenden Inflation wird ein Volk, das schon über die Jahrzehnte als Konsequenz von wirtschaftlichen Embargos ausgedurstet ist, noch ärmer. Der einzige Weg ist der Widerstand.

Doch dieses anhaltende Auflehnen gefällt dem Regime nicht. Das Besondere an der Protestwelle ist ihre Herkunft. Der Ursprung liegt, wie schon erwähnt, in Kurdistan. Aber dieses Mal stehen alle mit auf. Man liest auf Geldscheinen „Tod dem Diktator“, mit Hand geschrieben, oder „Frau Leben Freiheit“. Männliche Mitarbeiter der Apotheken tragen im Dienst Kopftuch, aus Solidarität mit ihren Kolleginnen, die zum Kopftuch gezwungen werden. Wird eine Frau ohne Kopftuch auf offener Straße von einem Miliz-Mitglied bedrängt, stehen sofort zehn Männer neben ihr und verjagen den Aggressor.

Rachezüge an der Jugend

Auch das Regime weiß, dass es durchhalten muss: In den Schulen zeigen die Lehrkräfte teils Videos von Vergewaltigungen, um die jungen Menschen einzuschüchtern und mundtot zu machen. Schon im November wurde das Essen in den Kantinen der Universitäten vergiftet und jetzt folgte im Februar ein neuer Rachezug an der Jugend: Mit Atemgas wurden Schüler, besonders Schülerinnen in Mädchenschulen, vergiftet. Sie wurden laut Berichten dazu aufgerufen, das Lehrgebäude nicht zu verlassen, trotz der aufkommenden Atemnot. Zuhauf konnte man Bilder von auf dem Boden liegenden Schülerinnen im Internet finden, die um Atem ringen. Wurden diese Schülerinnen in Krankenhäuser gebracht, ging der systematische Terror weiter: Es wurde ihnen nicht regulär Blut abgenommen, um die Herkunft der Beschwerden zu verschleiern und die Familien der betroffenen Mädchen wurden teilweise verhaftet.

Das iranische Regime schafft es, das gesamte medizinische Kollegium gegen sich aufzubringen. Im Herbst haben sie die Legitimität der Krankenwagen missbraucht und mit diesen Fahrzeugen reihenweise Menschen an unbekannte Orte verschleppt. Kollegen müssen unter Druck falsche Arztbriefe und Todesbescheinigungen ausstellen, Verletzungen durch Vergewaltigung und Folter anders betiteln, um den Familien somit die Argumentationsgrundlage zu entziehen. Manche berichten, dass sie gehäuft Verletzungen im Gesicht, der Augen und bei Frauen besonders der Geschlechtsorgane, behandeln müssen. Kugeln, die zwischen Harnröhre und Vagina landen, konnte ich einem Bericht entnehmen. Wer solche Brutalität an jungen Menschen bezeugen muss, dem bescheinige ich, kann hier nicht neutral bleiben.

Aufruf

Liebe Kolleginnen und Kollegen, steht mit uns auf.

Für unsere Schwestern und Brüder, für unsere Väter und Mütter, die vor vierzig Jahren die Freiheit suchten und gingen und seither die Schuld derselben hier in Deutschland mit sich tragen. Wir können sie unterstützen, die bleierne Hand über sich loszuwerden, damit sie endlich wieder heilen können und nicht mehr kämpfen müssen, damit sie die Gänze des Lichts und dieser Welt genießen können.

Für Frau, Leben, Freiheit.

Nüchtern bleiben ist schwierig bei der Auflistung solcher Geschehnisse und den Bildern in meinem Kopf, die ich damit wieder hervorrufe. Dass unsere europäischen Regierungen nicht so eindeutig, oder wenn, dann deutlich zu schüchtern hinter der Einhaltung geltender Menschenrechte in nichteuropäischen Teilen dieser Welt stehen, haben sie in den letzten Monaten mehrfach unterstrichen. Noch immer sträuben sich die europäischen Minister davor, die Revolutionsgarden geschlossen auf die Terrorliste der Europäischen Union zu setzen und sitzen stattdessen noch immer mit Verbrechern an einem Tisch.

Was wir in Deutschland tun können

Und da sind wir angekommen bei der Frage, was wir im Ausland überhaupt tun können, um die Revolution der Menschen im Iran weiter voranzutreiben. Wir müssen Haltung zeigen. Kreativ werden, eine Nische finden, in der wir aktiv sein und Platz in der Öffentlichkeit schaffen können. Dahinter steckt der Gedanke, dass jede öffentlich sichtbare Aktion via Foto oder Video bei den Protestierenden im Iran landet.

Wir können Teil eines Lauffeuers sein, das jedes Mal wieder neu entflammt und den Menschen neue Energie, neuen Mut gibt, weiter nach ihrer Freiheit zu streben. Solidarität zeigen fängt an mit Armbändern oder Ansteckern am Kittel, geht aber so weit, dass jeder Einzelne von uns sich Gedanken machen könnte, wohin wir Verbindungen haben. Es könnte so aussehen, dass sich Kliniken in einem offenen Brief zusammentun und – erneut so lange, wie es braucht – die Deutsche Bundesregierung und Europäische Kommission adressieren.

Unter uns befinden sich viele Iraner. Ich weiß das, ich bin eine von ihnen und kenne plötzlich so viele mehr, seit die Revolution begonnen hat. Wir sollten uns umschauen und ab und zu daran denken, dass viele von uns noch Familie im Iran haben. Kürzlich wurde ich auf einer Demonstration, bei der sich mir zwei deutsche Kollegen angeschlossen hatten, von völlig erstaunten Mitdemonstrierenden angesprochen, wie schön es sei, Nicht-Iraner zwischen uns zu sehen.

Im März feiern die Iraner auf der ganzen Welt das neue Jahr. „Noruz“, so heißt das Fest, das auf einen zarathustrischen Brauch zurückgeht. Am 20. März 2023 um 22:24 unserer Zeit beginnt der Frühling. Die Tage werden länger, das Licht kehrt zurück. Und mit diesem Licht hoffentlich auch neue Energie. Im Iran rufen die Menschen schon zu den nächsten großen Protesten auf, die nächste Phase der Revolution steht an.

Hinweis-- Die Familie der Autorin Maryam Koohestanian stammt aus dem Iran, Koohestanian studiert Medizin in Deutschland und schreibt als Musikerin Maryam.fyi Kolumnen über die iranische Revolution.