DGK-Jahrestagung

Ein Blick in die kardiologische Glaskugel

Genomik und KI-- Als kardiologischer „Wahrsager“ war Prof. Stefan Blankenberg angefragt, einen Blick in die Glaskugel zu werfen. Er sah eine patientenzentrierte Kardiologie, die mithilfe von Genomik und Technik jene Patienten selektiert, die von aktuellen und zukünftigen Präventionsmaßnahmen profitieren.

Von Carola Göring Veröffentlicht:
Postersessions brachten bei der Jahrestagung neue Erkenntnisse, auch KI und Genomik waren Thema

Postersessions brachten bei der Jahrestagung neue Erkenntnisse, auch KI und Genomik waren Thema

© Thomas Hauss

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die häufigsten Erkrankungen in Deutschland und Europa. Sie stellen mit jährlich ca. 340.000 Todesfällen [1] auch die größte Zahl an vermeidbaren Todesursachen dar. Was bietet die moderne Medizin in diesem Feld? Prof. Stefan Blankenberg, Universitäres Herz- und Gefäßzentrum Hamburg, entwarf ein Szenario, wie dies konkret aussehen kann, am Beispiel des Vorhofflimmerns. Bekannt sei, dass das Risiko für Vorhofflimmern ab dem 60. Lebensjahr – für Männer etwas früher, für Frauen etwas später – stark ansteigt. Unglücklicherweise bleibt diese Rhythmusstörung häufig bis zum ersten schwerwiegenden Symptom, das ist häufig ein Schlaganfall, unerkannt.

Hier kommt die Genomik ins Spiel. Kürzlich wurden 67 neue und 27 bekannte Genorte, die mit Vorhofflimmern assoziiert sind, identifiziert [2]. Damit kann das genetische Risiko für Vorhofflimmern auf individueller Ebene genau definiert werden. Wenn man zwischen Technik, Ökonomie und Patientenzentriertheit balanciert, könnte zunächst, z. B. bei Männern ab 60 und bei Frauen ab 65 Jahren, das Risiko für Vorhofflimmern mithilfe des Framingham-Risikoscores erfasst werden [3]. Bei den so identifizierten Risikopatienten kann mit dem polygenomischen Risikoscore [2] eine weitere Selektion erfolgen. Damit würde man ca. 1 % der Bevölkerung über 60 Jahren mit hohem Risiko für Vorhofflimmern identifizieren. Das sei eine realistische Fallzahl, betonte Blankenberg. Die so selektierten Personen könnten gemeinsam mit ihren Kardiologinnen und Kardiologen entscheiden, ob eine medikamentöse Prophylaxe gemacht werden kann. So könne man Genomik in klinischen Nutzen umsetzen.

Wir haben deutlich schnellere, sichere und unmittelbare Rule-Outs.

Zitat Prof. Stefan Blankenberg

Gleiches gilt für die KHK. Der kürzlich entwickelte SCORE2 der ESC [4] hat den großen Nachteil, dass die prädiktive Fähigkeit „nur“ zehn Jahre beträgt. Für eine bessere Prädiktion könnten Lebenszeitkurven des kumulativen kardiovaskulären Erkrankungsrisikos aufgrund von Non-HDL-Werten weiterhelfen [5]. Die individuelle Risikoselektion hilft jedoch nur, wenn auch präventiv-therapeutische Maßnahmen verfügbar sind. Hier wird die Lipoprotein(a)-Therapie zukünftig eine große Rolle spielen. Hohe Lp(a)-Konzentrationen, wie sie etwa 20 % der Bevölkerung aufweisen, seien komplett genetisch determiniert, so Blankenberg, und gehen mit einem hohen Infarktrisiko einher [6]. Vermutlich können ab 2025 erhöhte Lp(a)-Werte mit modernen Substanzen behandelt werden. In der klinischen Entwicklung sind Antisense-Oligonukleotide wie Pelacarsen (Phase-III-Studie läuft) oder small interfering RNA (siRNA) wie Olpasiran – beides Strategien zur Unterdrückung der Genaktivität.

Auch die Statintherapie könnte präventiv bei Patienten mit hohem kardiovaskulären Risiko eine Rolle spielen. Womöglich gibt es in etwa drei bis vier Jahren eine Statin-Jahrestherapie, die das LDL-C um 60 mg/dl senken kann.

Decision Support Systeme

„Jeder von uns in Klinik und Praxis ist mit Brustschmerz konfrontiert. Das ist ein Problem, das uns täglich beschäftigt“, sagte Blankenberg. Es gibt ein klar definiertes Vorgehen: klinisches Assessment, EKG, eventuell Echo und Bestimmung des Troponins. Wende man den ESC-Algorithmus zum schnellen ein- bzw. ausschließen von Patienten zur weiteren ACS-Abklärung an, könne man 14 % der Patienten in der Chest Pain Unit (CPU) mit hoher Sicherheit nach Hause schicken, erläuterte Blankenberg [7]. Moderne Decision Support Systeme, die vermutlich in zwei bis drei Jahren in Klinik und Praxis einsetzbar sind, erreichen mit den gleichen Variablen viel höhere Werte. Ein Infarkt kann so bei etwa 44 % der Patienten ausgeschlossen werden – und das bei gleich hoher positiver und negativer Prädiktivität wie sie der ESC-Algorithmus liefert. „Das wird unseren täglichen Alltag verändern und prägen“, sagte Blankenberg. „Wir haben deutlich schnellere, sichere und unmittelbare Rule-Outs – und das in einem ökonomisch und medizinisch sinnvollem Verhältnis.“

Mit den gesamten verfügbaren molekularen und digitalen Entwicklungen kann sich die Medizin und speziell die Kardiologie in fünf bis sieben Jahren erheblich verändern. Das hält Blankenberg für realistisch. Die Integration von Ganzgenomdatensätzen in klassische anamnestische und andere Patientendaten zusammen mit modernster, funktioneller Bildgebung wird zu Quantensprüngen in Prädiktion und Therapie bei den drei großen kardiologischen Volkserkrankungen KHK, Herzinsuffizienz und Arrhythmien führen.

Fazit

Mit den neuesten technologischen Möglichkeiten wird sich die Diagnostik von Vorhofflimmern, KHK und Co deutlich verbessern.

Quelle-- 89. DGK-Jahrestagung, vom 12. bis 15. April 2023 in Mannheim

Literatur-- 1. https://bit.ly/3Vir7I2
2. Roselli C et al. Nature Genetics. 2018, 50:1225-33
3. Schnabel RB et al. Lancet. 2009, 373(9665):739-45
4. Eur Heart J. 2021;42(25):2439-54
5. Brunner FJ et al. Lancet. 2019,394:2173-83
6. Waldeyer C et al. Eur Heart J. 2017;38:2490-8
7. Collet JP et al. Eur Heart J. 2020;42(14):1289-367

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