ESC-Kongress
Meistens liegt es nicht am Statin!
Muskelbeschwerden-- Noch immer hält sich in der Bevölkerung das Gerücht, Statine verursachten zahlreiche Nebenwirkungen, befeuert durch Medienberichte. Eine große Metaanalyse widerlegt das erneut. Experten fordern Konsequenzen.
Veröffentlicht:„Cholesterinsenker können krank machen“, lautete die Überschrift eines im SPIEGEL 38/2020 erschienenen Beitrages, „Cholesterin, der große Bluff“ war eine auf ARTE erschienene Doku, die viel Aufmerksamkeit erzeugte und noch immer auf Youtube angesehen werden kann. Es sind solche Berichte, welche die Menschen verunsichern und zum Teil sogar zum Absetzen ihrer Statintherapie bewegen. Und die aufgrund der andauernden Warnung vor angeblichen Nebenwirkungen bei nicht wenigen Menschen einen sog. Nocebo-Effekt auslösen. Die Patienten verspüren also aufgrund ihrer negativen Erwartungshaltung Muskelbeschwerden, die sie der Statintherapie zuschreiben, obwohl der Wirkstoff selbst gar nicht dahintersteckt.
Dass dieser Effekt für die große Mehrheit der unter Statingabe verspürten Muskelbeschwerden verantwortlich ist, machen nun die Ergebnisse einer umfassenden Metaanalyse der „Cholesterol Treatment Trialists (CTT) Collaboration“ deutlich. Der beteiligte Autor Prof. Colin Baigent von der Universität Oxford hat die Daten beim ESC-Kongress in Barcelona vorgestellt. Zeitgleich sind sie im „Lancet“ publiziert worden.
Randomisiert und doppelblind
Um Bias und „Confounding“ weitestgehend auszuschließen, fokussierten Baigent und sein Team sich ausschließlich auf randomisierte doppelblinde Studien mit mindestens 1.000 Teilnehmern. Zudem nutzten sie individuelle Patientendaten. Insgesamt 23 Studien gingen in die Auswertung ein; 19 von diesen hatten Statine vs. Placebo untersucht (mit einem medianen Follow-up von 4,3 Jahren und 123.940 Probanden), 4 Studien hatten die Wirkung einer weniger intensiven Statintherapie mit der einer hochintensiven Therapie verglichen (Follow-up: 4,9 Jahre, 30.724 Probanden).
Im ersten Jahr verursachte die Statineinnahme einen geringfügigen, aber statistisch signifikanten 7%igen relativen Anstieg an erstmals auftauchenden Muskelschmerzen oder -schwäche (Rate Ratio, RR: 1,07). „Es gibt also verlässliche Evidenz für einen geringen Anstieg, aber der ist sehr gering“, machte Baigent deutlich. In absoluten Zahlen ausgedrückt waren 11 von 1.000 Patienten betroffen oder anders formuliert: < 1 %. Wenn man den tatsächlichen Anstieg mit der Anzahl insgesamt angegebener Nebenwirkungen vergleicht, zeigt sich, dass nur etwa 1 von 15 solcher Berichte tatsächlich auf die Statintherapie zurückzuführen ist. Oder wie Baigent es ausdrückte: „93% der Statin-Beschwerden, die wir sehen, liegen nicht an dem Statin“.
Anstieg nur im ersten Jahr
Eine weitere wichtige Botschaft: Nach dem ersten Jahr ließ sich keine signifikante Zunahme solcher Nebenwirkungen mehr nachweisen. Das traf aber nicht auf die hochintensive Statintherapie zu. Diese ging über den gesamten Zeitraum mit einem etwas höheren relativen Risiko einher als eine weniger intensive Dosis im Vergleich zu Placebo (RR: 1,08 vs. 1,03). Und dieser Anstieg war nach einem Jahr noch zu sehen (RR: 1,05).
Bei der überwiegenden Anzahl an Patientinnen und Patienten mit tatsächlichen Muskelbeschwerden ließ sich im Übrigen kein Kreatinkinase-Anstieg nachweisen (> 96 %), wobei der Wert nur bei wenigen verfügbar war (< 6,2 %). Baigent schließt daraus, dass die meisten aufgetretenen Muskelbeschwerden milde waren und die Behandlung in diesen Fällen fast immer fortgesetzt werden konnte.
„Das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist sehr eindeutig“
Angesichts dieser Ergebnisse lässt der Epidemiologe keinen Zweifel an dem kardiovaskulären Nutzen einer Statinbehandlung, die seiner Ansicht nach die damit einhergehenden Risiken bei Weitem überwiegt. „Das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist sehr eindeutig“, stellte er klar. Baigent fordert einen differenzierteren Umgang mit vermeintlichen Statin-Nebenwirkungen: „Wir müssen einen besseren Job machen im Management von Patienten mit Muskelbeschwerden, weil viele ihre Behandlung absetzen und diese niemals wieder fortführen“. Des Weiteren sollte seiner Ansicht nach die Ettiketierung der Medikamente und die Packungsbeilagen überdacht werden.
Zahlreiche „Fake News“ im Internet
Prof. Maciej Banach sieht ebenfalls Handlungsbedarf, wie er in einem Editorial ausführt: „Ärzte, Fachgesellschaften und Regierungen haben die Entwicklung einer lautstarken Anti-Statin-Bewegung zugelassen, die dazu geführt hat, dass 7–10 Mal öfter sog. „Fake News“ im Internet veröffentlicht werden als verlässliche Berichte über die gesundheitsschädliche Rolle von LDL-C und den Nutzen einer Statintherapie“, schreibt der Kardiologe aus Lodz. Banachs Ausführungen nach lässt sich das Problem deshalb nur mit Öffentlichkeitsarbeit in den Griff bekommen. Es sei dringend notwendig, dass alle Akteure zusammenarbeiten und effektive Aufklärungskampagnen für Patienten und die Öffentlichkeit (beginnend in der Schule) umsetzen. Ebenso sei es wichtig, dass Ärzte fortwährend weitergebildet werden. Denn schließlich könnten, wenn die Empfehlungen zur Statinintoleranz konsequent umgesetzt werden, bis zu 98 % der Patienten ihre Statinbehandlung fortsetzen, meint Banach.
Fazit
Eine Statintherapie verursachte einen geringfügigen Anstieg an Muskelbeschwerden, die absoluten Zahlen sind aber sehr gering.
Nur 1 von 15 Berichten über Muskelsymptome ist auf das Statin zurückzuführen.
Quelle-- ESC Congress, Hotline-Session 9, 26. bis 29. August 2022 in Barcelona
Literatur-- Cholesterol Treatment Trialists‘ Collaboration. The Lancet 2022; https://doi.org/10.1016/S0140-6736(22)01545-8;
Banach M. The Lancet 2022; https://doi.org/10.1016/ 0140-6736(22)01643-9