Nicht jede Angina pectoris beruht auf einer Stenose

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Ein Kommentar von Prof. Dr. Melchior Seyfarth Veröffentlicht:
Prof. Dr. Melchior Seyfarth--Helios Universitätsklinikum WuppertalSeyfarth

Prof. Dr. Melchior Seyfarth--Helios Universitätsklinikum Wuppertal

© Seyfarth

Die Abklärung einer Angina pectoris unter Zuhilfenahme diagnostischer Möglichkeiten umfasst auch das klassische Belastungs-EKG, wobei Generationen von Kardiologen damit aufgewachsen sind, dass ein Belastungs-EKG weder besonders sensitiv noch besonders spezifisch ist. Eine solche Einschätzung einer diagnostischen Methode erfordert aber immer eine Referenz als Goldstandard, denn sonst kann eine Sensitivität und Spezifität, bzw. die abgeleiteten negativ prädiktiven und positiv prädiktiven Werte nicht berechnet werden. Im Falle eines Belastungs-EKGs bezog man die Sensitivität und Spezifität jahrzehntelang auf das Vorliegen einer bedeutsamen Koronarstenose an einem epikardialen Gefäß und dies auch nicht zu Unrecht, denn die kausale Therapie einer Revaskularisation mittels PCI oder Bypass setzt ja das Vorliegen einer hämodynamisch relevanten Koronarstenose voraus.

Es war aber schon immer irrig anzunehmen, dass jede Angina pectoris mit dem Vorliegen einer relevanten Koronarstenose zu erklären ist, denn selbstverständlich spiegelt die Angina pectoris wesentlich mehr und nicht nur die stenosebedingten Missverhältnisse zwischen myokardialem Sauerstoffbedarf und Angebot wider.

In diesem Kontext trägt die Studie von Sinha et al. etwas Neues bei, denn die Autoren konnten an einem kleinen Kollektiv von 102 Patienten zeigen, dass ein positives Belastungs-EKG bei Patienten ohne Koronarstenosen einen hohen prädiktiven Wert für das Vorliegen einer funktionellen Störung der Koronararterien, nämlich einer Acetylcholin-abhängigen, d. h. endothelabhängigen Funktionsstörung der Koronararterien hat. Leider war die Sensitivität des Belastungs-EKGs auch in diesem Kollektiv von Patienten ohne Koronarstenosen nicht gut (44 %), d. h. das Belastungs-EKG war auch bei Patienten unauffällig, die diese mikrovaskuläre Dysfunktion aufwiesen. Die Daten der Studie sollten trotz dieser sorgfältig erhobenen Werte aber mit Vorsicht in den Alltag übertragen werden, da als Voraussetzung zur Teilnahme in die Studie der invasive Ausschluss einer hämodynamisch relevanten Koronarstenose war (Patienten mit sogenannter ANOCA = Angina with nonobstructive coronary arteries).

Was lernen wir aus dieser Studie?

Die Abklärung und Interpretation einer Angina pectoris umfasst mehr als die Frage nach einer angiografisch nachweisbaren Stenose, sodass die Bedeutung funktioneller Messungen (FFR, endothelium-dependent und endothelium-independent mikrovaskulärer Messungen) an zusätzlichem Gewicht gewinnen. Das positive Belastungs-EKG kann bei Patienten mit einem Ausschluss hämodynamisch relevanter Koronarstenosen (egal ob mittels CTA oder Angiografie) auf eine endothel-abhängige mikrovaskuläre Funktionsstörung hinweisen. Ein positives Belastungs-EKG muss also nach Ausschluss von Koronarstenosen nicht unbedingt „lügen“.

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