Richtige Diagnostik zum richtigen Zeitpunkt

Vortestwahrscheinlichkeit bestimmen-- Eine präzise Berechnung der Wahrscheinlichkeit, dass eine Krankheit bereits vorliegt (Vortestwahrscheinlichkeit), ist Voraussetzung einer effizienten und zielgerichteten KHK-Diagnostik. Die Nutzung eines KI-basierten Softwaretools kann hier sehr nützlich sein.

Dr. Thomas M. Helms, Prof. Christian A. Perings und Prof. B. Andrew Remppis Veröffentlicht:
Eine gute Vorselektion der Patienten gewährleistet eine adäquate Gesundheitsversorgung.

Eine gute Vorselektion der Patienten gewährleistet eine adäquate Gesundheitsversorgung.

© AndreyPopov/Getty Images/iStock

Mit einer jährlichen Anzahl von etwa 1.100 Koronarangiografien pro 100.000 Einwohner hat Deutschland das höchste Pro-Kopf-Volumen in Europa [1]. Gleichzeitig zeigt eine länderübergreifende Vergleichsstudie innerhalb Europas für Deutschland eine große Häufigkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie koronarer Herzkrankheit (KHK) und einen deutlichen Verbesserungsbedarf in Bezug auf die Reduzierung der Sterblichkeit [2]. Nebst Fehlanreizen, die potenziell zu Fehlsteuerungen führen können, trägt auch eine ineffiziente Patientenselektion entlang des diagnostischen Pfades zu dieser Problematik bei. Das in Deutschland weit verbreitete Belastungs-EKG soll z. B. nur dann erwogen werden, wenn andere Verfahren nicht verfügbar sind, da es bei keiner gegebenen Vortestwahrscheinlichkeit geeignet ist, eine KHK sicher zu bestätigen oder auszuschließen [3]. So gleicht dieses Verfahren bei einer Sensitivität von 50 % einem Münzwurf.

Deshalb strebt die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V. (DGK), die rasche Integration der kardialen Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT) in die reguläre ärztliche Versorgung an, begleitet von einer adäquaten Vergütung durch die gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Die kardiale CT und MRT ermöglichen eine präzise diagnostische Klassifikation bei Patienten mit Verdacht auf KHK, mit dem Ziel, unnötige invasive Herzkatheterdiagnostik zu vermeiden [4]. Die diagnostische Aussagekraft der CT, MRT und anderer bildgebender Verfahren, variiert jedoch stark in Abhängigkeit der zugrunde liegenden Vortestwahrscheinlichkeit (PTP) [5] und der Qualifikation des Befunders. Wie wahrscheinlich ein richtig-positives Ergebnis ist, hängt nicht nur von der Testgüte, sondern auch von der Wahrscheinlichkeit ab, ob der Patient tatsächlich an der getesteten Krankheit leidet (Prävalenz in der untersuchten Population). Die aktuellen Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) definieren deshalb unmissverständlich, bei welcher Vortestwahrscheinlichkeit welche Untersuchungsmodalität zum Einsatz kommen soll [3]. Eine präzise Berechnung der Vortestwahrscheinlichkeit ist demnach essenziell, um bildgebende Verfahren effizient und zielgerichtet einzusetzen [4].

Eine genaue Berechnung der Vortestwahrscheinlichkeit verhindert einen übermäßigen Einsatz der Kardio-CT inder KHK-Diagnostik.

Eine genaue Berechnung der Vortestwahrscheinlichkeit verhindert einen übermäßigen Einsatz der Kardio-CT in der KHK-Diagnostik.

© K.H. Fung/Science Photo Library

Zur Beurteilung der Vortestwahrscheinlichkeit schreiben die Leitlinien die Verwendung von KHK-Algorithmen vor (Marburger Herzscore, Diamond Forrester [DF/PTP2013] gemäß Nationale VersorgungsLeitlinie Chronische KHK 2022, CAD-Consortium-Score, updated Diamond Forrester [DF/PTP2019], Framingham-Score). Die Algorithmen sind jedoch unpräzise und für die Risikostratifizierung ungeeignet [6, 7]. So unterzieht sich eine große Anzahl von Patienten unnötigerweise kostspieligen Untersuchungen und/oder erhält ungeeignete Behandlungsempfehlungen [7]. Außerdem besteht bei 40–60 % der Patienten, die sich einer invasiven Angiografie unterziehen, keine Notwendigkeit für einen solchen Eingriff [8, 9]. Damit verliert der wissenschaftlich begründete Ansatz, nur zur Vortestwahrscheinlichkeit passende bildgebende Modalitäten zu wählen, seine Steuerungsfähigkeit für eine rationale KHK-Diagnostik.

Leicht verfügbare Daten nutzen

Einen vielversprechenden Ansatz bietet eine auf künstlicher Intelligenz basierende Software. Der software-basierte Test ist zugelassenes Medizinprodukt in Europa und ermöglicht die präzise Berechnung der Vortestwahrscheinlichkeit, unter Verwendung von ausschließlich leicht verfügbaren anamnestischen Patientendaten und 15 leicht verfügbaren laborbiochemischen Daten in einer vernetzten Analyse. Damit kann ein Verdacht auf KHK bereits zu Beginn des diagnostischen Pfades mit hoher Sicherheit ausgeschlossen werden. Gleichzeitig kann bei erhöhtem Risiko der adäquate und ressourcenschonende Einsatz von weiterführenden fachkardiologischen Verfahren wie CT oder MRT eingeleitet werden. Bei einer KHK-Vortestwahrscheinlichkeit von < 5 % (niedrige Risikoklasse; Abb. 1) sind, gemäß den Leitlinien, weitere Tests nicht gerechtfertigt [3]. In Maastricht wurde in hausärztlichen und kardiologischen Praxen gezeigt, dass durch Anwendung der Software (Cardio Explorer®) 68,2 % der Patienten mit einer Vortestwahrscheinlichkeit < 5 % identifiziert werden konnten, womit sich weitere Tests vermeiden ließen. Im Vergleich dazu konnte der CAD-Consortium-Score nur 15 %, der PTP-Score lediglich 7 % und der Diamond-Forrester-Score (PTP-2013) 3 % der Patienten mit einer Vortestwahrscheinlichkeit < 5 % identifizieren.

Vortestwahrscheinlichkeit je nach Score (Abb. 1)-- Die verschiedenen Scores auf die gleichen Patienten angewandt, resultieren in unterschiedliche Zuordnung zu den Vortestwahrscheinlichkeiten. Die KHK-Prävalenz in der betrachteten Studienpopulation beträgt 16%. (Abkürzungen:Abkürzungen-- PTP = Pretest Probability, ESC 2019, FRS = Framingham-Score, DF = DiamondForrester-Score, CAD2 = CAD-Consortium (Clinical)-Score)Eurlings CGMJ et al. [10]

Vortestwahrscheinlichkeit je nach Score (Abb. 1)-- Die verschiedenen Scores auf die gleichen Patienten angewandt, resultieren in unterschiedliche Zuordnung zu den Vortestwahrscheinlichkeiten. Die KHK-Prävalenz in der betrachteten Studienpopulation beträgt 16 %. (Abkürzungen: PTP = Pretest Probability, ESC 2019, FRS = Framingham-Score, DF = DiamondForrester-Score, CAD2 = CAD-Consortium (Clinical)-Score)Eurlings CGMJ et al. [10]

Die gängigen KHK-Algorithmen klassifizieren den Großteil der Patienten in die mittlere Risikogruppe (KHK-Risiko > 5 % und < 75 %) und sind daher für eine effektive Wahl der Folgeabklärung ungeeignet [10]. Umgekehrt heißt dies, dass trotz strenger Anwendung der derzeit gültigen Leitlinien der überwältigende Anteil an Patienten mit V. a. KHK im hausärztlichen Setting letztlich einer fachkardiologischen Untersuchung bzw. einem bildgebenden Verfahren zur weiteren Ischämiediagnostik zugeführt werden müsste. Die konsequente Anwendung der Leitlinien würde nicht nur zu einer Flut unnötiger Untersuchungen, sondern auch zu einer Verschärfung der leidlich bekannten Problematik fehlender Facharzttermine führen.

Steuerung beginnt beim Hausarzt

Abb. 1 belegt eindrücklich, dass im Gegensatz hierzu die Anwendung der neuen KI-gestützten Risikostratifizierung eine wissenschaftlich belegte Steuerungsfunktion bereits in der Primärversorgung durch den Hausarzt erlaubt. Knapp 10 % der Patienten können so ohne weitere Zeitverluste direkt einer invasiven Diagnostik zugeführt werden, da mit > 75 % Wahrscheinlichkeit eine relevante KHK vorliegt, während bei > 60 % der Patienten unnötige Untersuchungen unterbleiben bzw. frühzeitig Differenzialdiagnosen erwogen werden können. Ein weiterer wichtiger Aspekt ergibt sich aus der Tatsache, dass die Menge der Patienten mit mittlerer Wahrscheinlichkeit für eine relevante KHK um 70 % reduziert und damit einer unkontrollierten Mengenausweitung für die derzeit beim G-BA diskutierten bildgebenden Verfahren kardiale CT und MRT ein Riegel vorgeschoben würde. Da der Algorithmus für das mittlere Risiko eine weitere Differenzierung in eine untere und obere Risikogruppierung erlaubt, könnte sogar gezielt der differenzielle Einsatz von CT und MRT geplant werden.

Validierter Algorithmus

Der Software-Algorithmus wurde an einem Schweizer Patientenkollektiv entwickelt [11], am bekannten Patientenkollektiv der LURIC-Studie (Patienten aus der Metropolregion Rhein-Neckar) validiert und optimiert [12] und in der optimierten Version dann in einem externen, unabhängigen Hausarztkollektiv aus Maastricht validiert [10]. Die Fläche unter der ROC(Receiver-Operating-Characteristic)-Kurve (AUC) wird im Allgemeinen zur Bewertung der Genauigkeit eines diagnostischen Tests verwendet. Sowohl in Populationen mit hoher KHK-Prävalenz als auch niedriger KHK-Prävalenz zeigt der Software-Algorithmus (Cardio Explorer®) eine AUC von 0,87 [10, 12]. Die vom IQWiG durchgeführte Evidenzkartierung von CT- oder MRT-Diagnostik bei KHK-Verdacht zeigt die beiden Methoden im Vergleich zur invasiven Koronarangiografie und kommt auf ähnliche Ergebnisse (AUC von 0,90 bei der CT und 0,897 bei der Stress-MRT [1,5 Tesla, ≥ 50 % Stenose]) [13].

Insgesamt trägt eine präzise Vortestwahrscheinlichkeit dazu bei, eine patientenzentrierte, kosteneffiziente und zielgerichtete Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, bei der die richtigen Tests und Maßnahmen zur richtigen Zeit für diejenigen Patienten durchgeführt werden, für die sie am nützlichsten sind. Aktuell stehen verschiedene innovative Verfahren zur Verfügung, die als Gesamtstrategie das Potenzial haben, die Versorgung signifikant zu verbessern. Da sie jedoch noch nicht durch die gesetzlichen Krankenkassen vergütet werden, werden diese Verfahren in der regulären ärztlichen Versorgung nicht angewendet und kommen nicht bei den Betroffenen an.

Fazit

Die Vortestwahrscheinlichkeit bestimmt die Untersuchungsmodalitäten bei KHK.

Innovative Verfahren mit guten Ergebnissen wie der Cardio Explorer® stünden zur Berechnung zur Verfügung.

Danksagung-- Wir bedanken uns bei Dr. Bianca Steiner und Dr. Bettina Zippel-Schultz, Deutsche Stiftung für chronisch Kranke, Berlin, für die Unterstützung bei der Manuskripterstellung

Kontakt-- Dr. Thomas M. Helms, Deutsche Stiftung für chronisch Kranke, Berlin, helms@dsck

Literatur--

1. Figulla HR et al. Dtsch Arztebl Int. 2020;117(9):137-44

2. Nichols M et al. Eur Heart J. 2013;34(39):3028-34

3. Knuuti J et al. Eur Heart J. 2020;41(3):407-77

4. Korosoglou G et al. Kardiologie. 2023; https://doi.org/10.1007/s12181-023-00636-x

5. Knuuti J et al. Eur Heart J. 2018;39(35):3322-30

6. Genders TS et al. Eur Heart J. 2011;32(11):1316-30

7. Hendel RC. Circ Cardiovasc Imaging. 2019;12(10):e009835

8. Patel MR et al. N Engl J Med. 2010;362(10):886-95

9. Gottwik M et al. Dtsch Med Wochenschr. 2023;128(41):2121-4

10. Eurlings CGMJ et al. BMJ Open. 2022;12(9):e055170

11. Zellweger MJ et al. Int J Cardiol. 2014;174(1):184-6

12. Zellweger MJ et al. EPMA J. 2018;9(3):235-47

13. IQWiG; 2020; https://www.iqwig.de/download/ga20-01_herz-ct-oder-mrt-bei-verdacht-auf-khk_arbeitspapier_v1-0.pdf

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