Twitter – wenn der unkritische Hype zur Gefahr wird

Social Media-- Der Kurznachrichtendienst Twitter ist spätestens seit Beginn der COVID-19-Pandemie auch in der Kardiologie in aller Munde. Die bekanntesten internationalen Vertreterinnen und Vertreter unseres Faches vereinen sechs- bis siebenstellige Followerzahlen, also Abonnenten, die sich für ihre Beiträge interessieren.

Von Dr. Philipp Breitbart und Prof. Holger Thiele Veröffentlicht:
Tweets haben eine Zeichenbegrenzung, das birgt Risiken.bombuscreative/Getty Images/iStock

Tweets haben eine Zeichenbegrenzung, das birgt Risiken. bombuscreative/Getty Images/iStock

© bombuscreative / Getty Images / iStock

In Deutschland haben einige Vertreterinnen und Vertreter der Kardiologie bis zu 20.000 Follower. Während Twitterfans auf den Kurznachrichtendienst schwören, lehnen viele Skeptiker eine Nutzung komplett ab. Wie bei so vielen polarisierenden Diskussionen liegt die Wahrheit wohl in der Mitte. Wo diese ist, und welche Chancen aber eben auch Gefahren bestehen – dazu im Folgenden eine kommentierende Abwägung.

Kurznachrichtendienst auf dem Erfolgsweg

Die Erfolgsgeschichte von Twitter in unserem Fach ist beeindruckend: Vom 2021 rein virtuell durchgeführten ESC-Kongress wurden Tweets (= Kurznachrichten auf Twitter) veröffentlicht, die über 68,7 Millionen Mal gelesen oder gar weiterverbreitet wurden. Das Erfolgsrezept von Twitter ist durch die Bezeichnung als Kurznachrichtendienst schnell erklärt: Tweets sind auf 280 Zeichen begrenzt.

In einer aktuellen Zeit der Informationsüberflutungen haben Nutzer so die Möglichkeit, die wichtigsten kardiologischen Nachrichten (über Publikationen, Leitlinien oder Veranstaltungen) in Zusammenfassungen zu überfliegen und bei Bedarf zu vertiefen. Die Geschwindigkeit der Informationsübermittlung insbesondere bei Kongressen ist hier enorm und bei keinem anderen Medium sonst so schnell.

Besonderer Nutzen in Pandemiezeiten

Insbesondere in Pandemiezeiten ermöglichte Twitter zudem ein Kontaktaufbau unter Kolleginnen und Kollegen, die sich bis dato gar nicht oder nur marginal kannten: zum Erfahrungsaustausch, zum gemeinsamen Lernen, aber auch zur Konzeption und Initiierung gemeinsamer Studien. Das anschließende Teilen von Publikationen auf Twitter führt darüber hinaus nachgewiesenermaßen zu mehr Zitationen in anderen Veröffentlichungen, wie es durch randomisierte Studien wissenschaftlich belegt wurde.

Doch wo liegen die Gefahren? Der etwas pointierte Kardashian-Index setzt die Followeranzahl eines Twitter-Nutzers in Relation zu dessen wissenschaftlichen Publikationen. Ein hoher Index bedeutet provokativ ausgedrückt, dass die wissenschaftliche Aktivität die Social Media Bekanntheit nicht rechtfertigt. Allgemein werden Wissenschaftler mit Kardashian-Index > 5 etwas satirisch als „Science Kardashians“ bezeichnet.

Diese Bewertung steht natürlich zu Recht in der Kritik, da – konkret auf unser Fach bezogen – eine kardiologische Meinung ebenso durch umfangreiche bzw. langjährige klinische Expertise an Gewicht und Nachdruck gewinnt. Der Kardashian-Index symbolisiert dennoch eine große Schwäche von Twitter. Je mehr Follower eine Nutzerin oder ein Nutzer hat, desto mehr gewinnt seine/ihre Meinung an Reichweite und wird nachgeahmt – unabhängig davon, ob der- bzw. diejenige wirklich die entsprechende Expertise besitzt, die suggeriert oder von anderen angenommen wird. Es fehlt ein Reviewprozess.

Info

Wem Kardiologinnen und Kardiologen auf Twitter unbesorgt folgen können:

Handles-- @DGK_org @escardio @AGIKinterv @AGEP_DGK @kardiologie_org/@ESC_Journals

Hashtags-- #cardiotwitter #DGKOnline2022 #DGKJahrestagung/#DGKHerztage #ESCCongress #echofirst/#radialfirst

Kurzformat erlaubt keine differenzierte Darstellung

Die Kürze eines Tweets erlaubt zudem keine differenzierte Betrachtung einer Thematik, sodass Meinungen nicht selten – bewusst oder unbewusst – sehr dogmatisch vermittelt werden und sich diesbezüglich fast schon Twitter-Fanclubs bilden. Ein konkretes Beispiel aus der interventionellen Kardiologie ist hier der distale Radialiszugang („Snuffbox“) – auf Twitter gefeiert, von vielen großen/namhaften Zentren abgelehnt und beim genauen Blick in die wenigen Publikationen mit unterschiedlich zu interpretierenden Ergebnissen. Auch hier liegt wohl die Wahrheit in der Mitte.

Alle aus dem kardiologischen Umfeld, die Twitter nutzen, stehen nicht nur für sich selbst – in gewisser Weise wird mit ihnen auch der Arbeitgeber, die Fachgesellschaft, die Kardiologie und generell der medizinische Berufsstand verbunden. Polarisierende oder durch ihre Verkürzung provokative Tweets, öffentliche Diskussionen mit anderen Kolleginnen und Kollegen oder gar mit Außenstehenden fallen auf unser gesamtes Fach zurück.

Fachliche Diskussionen lieber persönlich führen

Zweifellos sind fachliche Diskussionen in unserem Berufsstand notwendig, um Behandlungen zu optimieren und Wissen auszubauen. Dies sollte sich aber auf den persönlichen Austausch unter Medizinerinnen und Medizinern oder Kardiologinnen und Kardiologen beschränken.

Was sollen mitlesende Patientinnen und Patienten oder deren Angehörige denken, wenn über ein vergleichbares Krankheitsbild auf Twitter diskutiert und dabei vielleicht sogar die Behandlungsform des Betroffenen negativ kommentiert wird? Patientinnen und Patienten können nur schwer unterscheiden, ob der diskutierte Fall in Details vom Eigenen abweicht und daher ein anderes Vorgehen empfohlen wird. Entsprechend können wir potenziell das Vertrauen von Patientinnen und Patienten in die Medizin und damit auch die Therapieadhärenz schädigen.

Schutz von Patientinnen und Patienten bedenken

Werden Fälle aus dem eigenen Alltag auf Twitter geteilt, besteht zudem die Gefahr, dass Betroffene ihre Krankheitsgeschichte wiedererkennen. Umfangreiche, teils wilde Diskussionen über das weitere Vorgehen oder im schlimmsten Fall über die Lebenserwartung, können in starker Verunsicherung der Betroffenen resultieren und zu Fehlannahmen mit entsprechend gravierenden Konsequenzen führen.

Ebenso besteht hier die Gefahr, dass oft nur positive Fälle berichtet werden, was oft zu einer Verzerrung der klinischen Realität führen kann. Datenschutzrechtliche Aspekte sind hier auch von wichtiger Relevanz.

Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen

Auch bei Twitter liegt die Wahrheit in der Mitte der Diskussion. Der Kurznachrichtendienst bietet viele Möglichkeiten für den unglaublich schnellen persönlichen Wissenszuwachs und den Netzwerkaufbau.

Da jedoch ein Reviewprozess fehlt, sollten sich Nutzerinnen und Nutzer genau überlegen, wem sie folgen. Zu empfehlen sind diesbezüglich primär die Fachgesellschaften, die verschiedenen Journals und auch seriöse Twitter-Nutzer. Auch die DGK achtet auf die Qualität der Tweets ihrer Ambassadoren.

Kritische Punkte sind auf Twitter öffentlich geführte Diskussionen, selektionierte Darstellung von klinischen Fällen, teilweise abwertende Kommentare und auch die Vermischung von klinischen mit privaten oder aber auch politischen Aspekten. Hier besitzen wir eine besondere Verantwortung, deren wir uns bewusst sein müssen. Im Zweifel lautet der Ratschlag daher: Lieber gar nicht tweeten, als falsch tweeten.

Fazit

Twitter ermöglicht einen unglaublich schnellen persönlichen Wissenszuwachs und den effizienten Austausch mit anderen Nutzern.

Twitter birgt aber durch das Kurzformat der Nachrichten auch Gefahren für Missverständnisse, insbesondere bei fachfremden Nutzern.

Die kardiologische Community ist deshalb gut beraten, nur qualifizierte Handles und Hashtags zu nutzen, z. B. von Fachgesellschaften (s. Kasten).

Kontakt-- Dr. med. Philipp Breitbart, Universitätsklinikum Freiburg, Prof. Dr. med. Holger Thiele, Herzzentrum Leipzig/Universität Leipzig, Holger.

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