Beurteilung des CV-Risikos bei Diabetes

SCORE2-Diabetes-- Die ESC-Leitlinie 2023 zum Management kardiovaskulärer Erkrankungen bei Patientinnen und Patienten mit Diabetes gibt detaillierte Therapieempfehlungen. Eine wichtige Rolle spielt dabei ein neuer, speziell auf die diabetische Population zugeschnittener Risikoscore, der SCORE2-Diabetes.

Von M. Verket und Prof. Dr. N. Marx und PD Dr. K. Schütt Veröffentlicht:
Eine Funktionseinschränkung der Betazellen des Pankreas und ein vermindertes Ansprechen der Körperzellen auf Insulin liegen einem T2DM zugrunde. natali_mis/stock.adobe.com

Eine Funktionseinschränkung der Betazellen des Pankreas und ein vermindertes Ansprechen der Körperzellen auf Insulin liegen einem T2DM zugrunde. natali_mis/stock.adobe.com

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Kürzlich hat die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) neue Leitlinien für das kardio-renale Management von Menschen mit Diabetes herausgegeben [1]. Hier wird deren kardiovaskuläres Risiko als sehr hoch eingestuft, wenn bereits eine manifeste atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung (ASCVD), oder eine manifeste symptomatische chronische Herzinsuffizienz, eine chronische Nierenerkrankung (CKD) und/oder schwere Endorganschäden (TOD, target organ damage) vorliegen [1]. Wie werden jedoch Menschen mit Typ-2-Diabetes (T2DM) risikostratifiziert, die nicht in diese klinische Risikokonstellationen gehören? Die Empfehlung lautet, bei allen Patienten im Alter von ≥ 40 Jahren mit (T2DM) ohne ASCVD oder schweren Endorganschäden das 10-Jahres-CVD-Risiko anhand des SCORE2-Diabetes zu schätzen (Abb. 1) und so bei diesen Patientinnen und Patienten die Risikofaktoren für ASCVD auf individueller Basis zu bewerten.

Warum wurde der SCORE2-Diabetes entwickelt?

Abschätzung des 10-Jahres-Risikos (Abb. 1)-- Kardiovaskuläre Risikostratifizierung für Patienten mit Typ-2-Diabetes.Verket(Abkürzungen siehe Text)

Abschätzung des 10-Jahres-Risikos (Abb. 1)-- Kardiovaskuläre Risikostratifizierung für Patienten mit Typ-2-Diabetes.Verket (Abkürzungen siehe Text)

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In den ESC-Leitlinien von 2021 zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurden die ADVANCE-Studie (Action in Diabetes and Vascular disease: preterAx and diamicroN MR Controlled Evaluation) oder DIAL (Diabetes lifetimeperspective Vorhersage) für die Schätzung des Risikos für eine CVD bei Patienten mit Diabetes vorgeschlagen [2–4]. Diese Modelle haben jedoch einige Einschränkungen für die Verwendung in Europa, da sie keine regionalen Risikounterschiede berücksichtigen, und damit unter Umständen kardiovaskuläre Risiken bei Diabetes falsch einschätzen. Darüber hinaus wurden diese Modelle aus einer begrenzten Anzahl von Studien entwickelt und nicht systematisch „rekalibriert“ bzw. statistisch an die heutigen CVD-Raten angepasst. Deswegen sind sie für die Verwendung in der heutigen europäischen Bevölkerung nicht ideal. Daher empfiehlt die aktuelle Leitlinie der ESC zum kardio-renalen Management von Menschen mit Diabetes [1] die Verwendung des SCORE2-Diabetes [5].

SCORE2-Diabetes: Was steckt dahinter?

PD Dr. Katharina Schütt, Universitätsklinikum Aachen Schütt

PD Dr. Katharina Schütt, Universitätsklinikum Aachen

© Schütt

SCORE2-Diabetes wurde durch die Erweiterung der SCORE2-Algorithmen [6, 7] entwickelt. Dazu wurden individuelle Teilnehmerdaten aus vier groß angelegten Datensätzen verwendet, die 229.460 Personen (43.706 CVD-Ereignisse) mit T2DM und ohne vorherige CVD umfassen. Diese wurden um geschlechtsspezifische, risikoadjustierte Modelle erweitert, die wie bei SCORE2 konventionelle Risikofaktoren (d. h. Alter, Rauchen, systolischer Blutdruck, Gesamt- und HDL-Cholesterin) berücksichtigen, und um diabetesbezogene Variablen (d. h. Alter bei Diabetesdiagnose, HbA1c und geschätzte glomeruläre Filtrationsrate auf Kreatininbasis [eGFR]) ergänzt. Die Modelle wurden auf die CVD-Inzidenz in vier europäischen Risikoregionen rekalibriert.

Die externe Validierung umfasste 217.036 weitere Personen (38.602 CVD-Ereignisse) und zeigte eine gute Diskriminierung und deutliche Verbesserung von SCORE2-Diabetes gegenüber dem herkömmlichen SCORE2. Um die Handhabung zu erleichtern, wurde eine ESC CVD Risk Calculation App mit SCORE2-Diabetes entwickelt, die kostenlos zur Verfügung steht. Das Ergebnis ist eine Einschätzung für das 10-Jahres-Risiko für einen nicht tödlichen Myokardinfarkt bzw. Schlaganfall oder Tod jeglicher kardiovaskulärer Ursachen bei Menschen mit Diabetes ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung und einem Alter von 40 Jahren oder älter. Es wurden vier Risikokategorien klassifiziert (Abb. 1).

Wie funktioniert der Score?

ASCVD ist klinisch durch ehemaligen Myokardinfarkt, instabile oder stabile Angina, koronare oder andere arterielle Revaskularisation, Schlaganfall oder/und TIA und periphere arterielle Verschlusskrankheit definiert. Laut ESC-Dyslipidämie-Leitlinie [8] gehört hierzu auch eine eindeutig dokumentierte Manifestation einer ASCVD in der Bildgebung, wie z. B. signifikanter Plaque im Ultraschall der Karotiden, bei einer Koronarangiografie oder einem CT-Scan (Multigefäßerkrankung mit mindestens zwei wesentlichen epikardialen Arterien mit einer Stenose von > 50 %). Ein Screening mittels Bildgebung wird aber nicht empfohlen [1]. TOD wird definiert mit eGFR < 45 ml/min/1,73m2 oder eGFR 45–59 ml/min/1,73m2, Albuminurie Stadium A2 (UACR bzw. Urin-Albumin zu Kreatinin-Ratio von ≥ 30 mg/g bis < 300 mg/g), Proteinurie A3 (UACR ≥ 300 mg/g) oder mikrovaskuläre Spätkomplikation an mindestens drei Organen: Albuminurie A2 plus Retinopathie plus Neuropathie.

Das 10-Jahres-Risiko bezieht sich auf die prozentuale Ereignisrate für einen nicht tödlichen Myokardinfarkt bzw. Schlaganfall oder Tod aufgrund jeglicher kardiovaskulärer Ursache in Menschen mit Diabetes ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung und einem Alter von 40 Jahren oder älter. Es wurden vier Risikokategorien klassifiziert: niedriges Risiko bei < 5 %, moderates Risiko bei 5 bis < 10 %, hohes Risiko bei 10 bis < 20 % und sehr hohes Risiko bei ≥ 20 %. Die Klassen der Empfehlungen sind: Klasse I (grün) wird empfohlen, Klasse IIa (gelb) sollte, Klasse IIb (orange) könnte getan werden. Die Evidenzlevels sind: A = mehrere Endpunktstudien und Metaanalysen, B = eine Endpunktstudie oder große nicht randomisierte Kohorten-Studien und C = Expertenmeinung.

Beispiele für das 10-Jahres-Risiko

In einer moderaten Risikoregion, wie z. B. Deutschland, beträgt das geschätzte 10-Jahres-CVD-Risiko für einen 60-jährigen Mann, Nichtraucher, mit T2DM, durchschnittlichen konventionellen Risikofaktoren, einem HbA1c-Wert von 50 mmol/mol (6,73 %), einer eGFR von 90 ml/min/1,73 m2 und einem neu diagnostizierten Diabetes 11,0 %. Im Gegensatz dazu liegt das geschätzte Risiko bei einem gleichaltrigen Mann mit vergleichbaren konventionellen Risikofaktoren aber einem HbA1c-Wert von 70 mmol/mol (8,56 %), einer eGFR von 60 ml/min/1,73 m2 und einem Alter bei Diabetesdiagnose von 50 Jahren bei 17,2 %. Zum Vergleich: Eine Frau mit den gleichen Merkmalen hat ein Risiko von 7,6 % bzw. 12,7 %.

Risiko-Kategorien sind eine klinische Orientierungshilfe

Die 10-Jahres-Risikoschwellen (Abb. 1) sind nur Richtwerte, und andere Patientenmerkmale können auch unabhängig von diesen Schwellenwerten zu Therapieentscheidungen führen. Die in diesen Leitlinien für die Verwendung von SCORE2-Diabetes vorgeschlagenen Risikogrenzen sind nicht „absolut“, sondern sollten als Orientierungshilfe für Ärzteschaft und Betroffene dienen, um gemeinsam über Strategie und Intensität einer Behandlung zu entscheiden, die der Prävention einer ASCVD bei Menschen mit T2DM dienen soll (Abb. 1).

Fazit

Der neue SCORE2-Diabetes sollte zur Abschätzung des 10-Jahres-Risikos für kardiovaskuläre Erkrankungen bei Menschen mit T2DM im Alter ≥ 40 Jahre und ohne bekannte oder symptomatische ASCVD oder schweren Endorganschaden eingesetzt werden.

Dabei beeinflusst das ermittelte kardiovaskuläre Risiko unter anderem die antiglykämische Differenzialtherapie.

Kontakt-- PD Dr. Katharina Schütt, Universitätsklinikum Aachen, kschuett@ukaachen.de

Literatur--

1. Marx N et al. Eur Heart J. 2023;44:4043-140

2. Visseren FLJ et al. Eur Heart J. 2021;42:3227-337

3. Kengne AP et al. Eur J Cardiovasc Prevent Rehabil. 2011;18:393-8

4. Berkelmans GF et al. Eur Heart J. 2019;40:2899-906

5. SCORE2-Diabetes Working Group. Eur Heart J. 2023;44:2544-56

6. SCORE2 working group. Eur Heart J. 2021;42:2439-54

7. SCORE2-OP working Group. Eur Heart J. 2021; 42:2455-67

8. Mach F et al. Eur Heart J. 2020;41:111-88

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