Das Paradigma wackelt

Kontraindikation-- Die intravenöse Thrombolyse (IVT) ist bei Patienten mit ischämischem Schlaganfall und kürzlicher Einnahme von NOAK kontraindiziert, da insbesondere schwere intrakranielle Blutungen (ICB) befürchtet werden. Die überraschenden Ergebnisse einer Kohortenstudie rütteln jetzt an diesem Paradigma.

Von PD Dr. Gerrit M. Große Veröffentlicht:
Blutungskomplikationen nicht bestätigt-- In zumindest einer Studie war das ICB-Risiko bei IVT unter NOAK nicht erhöht. Axel Kock/stock.adobe.com

Blutungskomplikationen nicht bestätigt-- In zumindest einer Studie war das ICB-Risiko bei IVT unter NOAK nicht erhöht.

© [M] Axel Kock/stock.adobe.com

Aktuell ereignen sich bis zu 20 % aller Schlaganfälle trotz einer suffizienten Behandlung mit nicht-Vitamin-K-abhängigen oralen Antikoagulanzien (NOAK). Da das Indikationsspektrum für die NOAK weiterhin wächst, ist anzunehmen, dass auch die Inzidenz der Schlaganfälle unter bestehender antikoagulativer Therapie steigen wird. Die intravenöse Thrombolyse (IVT) ist bei Schlaganfällen unter suffizienter Antikoagulation aktuell kontraindiziert aufgrund des befürchteten Risikos für schwere Blutungsereignisse, insbesondere intrakranielle Blutungen (ICB). Entsprechend empfehlen die Leitlinien, keine IVT bei Patienten, die innerhalb der letzten 48 Stunden vor Schlaganfall ein NOAK eingenommen haben. Für diese Empfehlung gibt es jedoch keine gute Evidenz.

Kohortenstudie analysiert IVT-Ergebnisse bei NOAK-Patienten

Pd Dr. Gerrit Große--Medizinische Hochschule HannoverGroße

Pd Dr. Gerrit Große--Medizinische Hochschule Hannover

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Kollegen aus Bern und Heidelberg legten nun eine Untersuchung vor, die dieses Paradigma überzeugend infrage stellt [1]. Diese multizentrische, internationale, retrospektive Kohortenstudie hat Daten von Patienten ausgewertet, die zwischen 2008 und 2021 eine IVT erhielten und innerhalb von 48 Stunden vor Symptombeginn des Schlaganfalls ein NOAK eingenommen hatten. Als Vergleichsgruppe dienten Patienten, die mit IVT behandelt wurden, aber nicht unter einer effektiven Antikoagulation standen. Der genaue NOAK-Einnahmezeitraum vor Schlaganfall wurde – sofern verfügbar – dokumentiert und eingeteilt: innerhalb von 12 Stunden, 12–24 Stunden, bzw. > 24 Stunden. Darüber hinaus wurden Informationen zur jeweiligen Behandlungsstrategie erhoben, z. B. ob NOAK-Plasmaspiegel gemessen wurden oder NOAK vor IVT antagonisiert wurden. Das Auftreten einer symptomatischen ICB innerhalb von 36 Stunden nach IVT wurde als der primäre Endpunkt definiert. Sekundäre Endpunkte waren jede ICB in einer Verlaufsbildgebung und ein gutes funktionelles Outcome nach 90 Tagen entsprechend einer klinischen oder telefonbasierten Visite durch die Studienzentren.

Insgesamt konnten 832 Patienten mit NOAK-Behandlung und 32.375 Kontrollpatienten berücksichtigt werden. In der NOAK-Gruppe waren die Patienten älter (79 vs. 72 Jahre) und wiesen etwas schwerere Schlaganfälle auf (medianer NIHSS 11 vs. 9). Die Prävalenz von proximalen Gefäßverschlüssen (59 vs. 33 %) und von Vorhofflimmern (90 vs. 25 %) war bei den NOAK-Behandelten ebenfalls höher. Von den NOAKs war Dabigatran die am häufigsten eingenommene Substanz (41 %), gefolgt von Rivaroxaban (31 %), Apixaban (20 %) und Edoxaban (8 %). In 30 % der Fälle wurde eine Antagonisierung (Idarucizumab bei Dabigatran) vorgenommen und in 27 % NOAK-Plasmaspiegel gemessen.

Überraschendes Ergebnis

Die Rate symptomatischer ICBs lag in der NOAK-Gruppe bei 2,5 % und bei den Kontrollen bei 4,1 %. Die adjustierte Odds Ratio (aOR) für eine symptomatische ICB war 0,57 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,36–0,92). In prädefinierten Sensitivitätsanalysen anhand der oben genannten Zeitintervalle war dieses Ergebnis konsistent, wobei die kleinen Fallzahlen die Präzision der Schätzungen deutlich einschränkten. NOAK-behandelte Patienten, bei denen weder eine Plasmaspiegelmessung, noch eine Antagonisierung erfolgte (n = 355), hatten zwar ebenfalls ein nominell erniedrigtes Risiko für eine symptomatische ICB (aOR: 0,66; 95%-KI: 0,35–1,25), allerdings ein höheres für jegliche ICB in der Bildgebung (aOR: 1,58; 95%-KI: 1,16–2,14). Die weiteren sekundären Endpunkte unterschieden sich nicht wesentlich zwischen den Gruppen.

Diskussion und Limitationen

Insgesamt war das Risiko für eine symptomatische ICB bei IVT unter bestehender NOAK-Behandlung entgegen der Erwartung also deutlich reduziert. Mögliche Erklärungen sind verbesserte thrombolytische Eigenschaften und eine geringere Blut-Hirn-Schrankenstörung durch die direkte oder indirekte Thrombin-Inhibition. Neben dem retrospektiven Design ist ein möglicher Indikationsbias die wichtigste Limitation dieser Studie: Die Behandler werden unter Kenntnis einer bestehenden NOAK-Therapie solche Patienten mit IVT behandelt haben, die besonders geringe Risiken für eine hämorrhagische Transformation des Schlaganfalls aufwiesen. Die genannten Subgruppenanalysen haben zwar ähnliche Trends ergeben, hatten aber eine zu geringe statistische Power, um verlässliche Schätzungen zu liefern.

Fazit

Diese methodisch hochwertige Kohortenstudie ergab keinen Hinweis darauf, dass bei Patienten, die eine IVT erhalten, eine bestehende NOAK-Behandlung das ICB-Risiko erhöht.

Eine randomisierte, kontrollierte Studie zu diesem Thema wird es wahrscheinlich nie geben. Daher wäre ein prospektives Register sinnvoll, um das bestehende Paradigma der IVT-Kontraindikation bei NOAK-Behandlung im Sinne der vielen betroffenen Patienten zu ändern.

Die Studie unterstützt darüber hinaus das inzwischen etablierte Vorgehen, Dabigatran vor IVT mit Idarucizumab zu antagonisieren.

Literatur--

1. Meinel RT et al. JAMA Neurol. 2023;80(3):233-43

Kontakt-- PD Dr. Gerrit M. Große, Klinik für Neurologie mit Klinischer Neurophysiologie, Medizinische Hochschule Hannover, grosse.gerrit@mh-hannover.de

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