Geschlechtersensibler Blick auf den linken Vorhof

Herzklappen & Lockdown-- Die Kardiologie ist das Leuchtturmfach in der geschlechtersensiblen Medizin. Trotzdem fehlen in vielen Bereichen, wie z. B. der Funktion des linken Atriums bei Mitralklappeninsuffizienz, noch Daten zu Geschlechterunterschieden. Diese und andere wurden von einem deutschen Forschungsteam auf dem Gendermedizin-Kongress in Padua [1] präsentiert.

Von Dr. Carola Göring Veröffentlicht:
Bei Frauen scheinen die Anpassungsvorgänge im linken Vorhof im Falle einer Volumenbelastung anders zu sein als bei Männern.

Bei Frauen scheinen die Anpassungsvorgänge im linken Vorhof im Falle einer Volumenbelastung anders zu sein als bei Männern.

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Die Funktion des linken Vorhofs (LA) ist bei Frauen mit schwerer Mitralklappeninsuffizienz aufgrund einer linksventrikulären (LV) Dysfunktion anders als bei Männern. Ursächlich könnten unterschiedliche Mechanismen des LA-Remodelings bei Männern und Frauen sein, wie moderne echokardiografische Verfahren (3-Phasen-Strain-Analyse) zeigen. Zu diesem Ergebnis kam ein Forscherteam der Charité am Campus Benjamin Franklin in Berlin um Dr. Ursula Wilkenshoff, Oberärztin der Klinik für Kardiologie, Leiterin der Echokardiografie, und PD Dr. Ute Seeland, Berlin, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtersensible Medizin [2, 3].

Bekanntlich ist eine schwere Mitralklappeninsuffizienz (mitral regurgitation, MR) bei beiden Geschlechtern mit einer schlechten Prognose assoziiert. Jedoch fehlen Daten zu möglichen Geschlechterunterschieden sowohl bei den verschiedenen Ursachen, die zu einer Mitralklappeninsuffizienz führen, als auch in Bezug auf die Anpassung des linken Vorhofs (Remodeling) an die veränderten Verhältnisse. Die in Padua als Poster präsentierte retrospektive Beobachtungsstudie kann diese Lücke etwas füllen. Insgesamt wurden dem Herzteam von 2019 bis 2021 85 Frauen mit schwerer Mitralinsuffizienz vorgestellt und damit etwa ein Drittel weniger als Männer (n = 107). Die ätiologische Einteilung anhand der Kriterien der ESC/EACTS-Leitlinie von 2021 ergab am häufigsten eine sekundäre Mitralklappeninsuffizienz (56 %), gefolgt von einer primären MR (35 %), einer gemischten (6 %) und einer sonstigen (3 %).

Reagiert das Herz bei Frauen anders als bei Männer?

In die Kategorie sekundäre Mitralklappeninsuffizienz aufgrund einer linksventrikulären Dysfunktion (sLV-MR) fielen fast 2,7-mal so viel Männer wie Frauen. Die Ejektionsfraktion war mit 35 % bei Männern ebenso reduziert wie bei Frauen, was durch die globalen LV-Strainwerte (GLS –9,9 %) bestätigt wurde. Allerdings wiesen die männlichen Patienten größere Volumina des linken Vorhofs auf als die Frauen (132,8 vs. 98,61 ml). Die detaillierte Analyse der LA-Funktion mittels Speckle-Tracking-Echokardiografie ergab keine Geschlechterunterschiede bei der Messung des LA Reservoir Strain (LARs), jedoch bei der Verteilung der einzelnen Phasen der Vorhoffunktion. Die aktive Kontraktion des linken Vorhofs war bei Frauen häufiger erhalten als bei Männern (p = 0,012), während die passive Verkürzung der Vorhofmyokardfasern nach Dehnung des Vorhofs, die Konduitfunktion, bei Frauen mit schwerer sLV-MR schlechter war als bei Männern (p = 0,008).


Dr. Ursula Wilkenshoff (l) und PD Dr. Ute Seeland (r) stellten ihre Daten in einer Posterpräsentation beim Gendermedizin-Kongress vor.

Dr. Ursula Wilkenshoff (l) und PD Dr. Ute Seeland (r) stellten ihre Daten in einer Posterpräsentation beim Gendermedizin-Kongress vor.

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Diese mit modernen echokardiografischen Methoden ermittelten Daten deuten darauf hin, dass sich die Anpassungsvorgänge des LA bei Volumenbelastung bei Frauen und Männern unterscheiden könnten. „Das muss natürlich in weiteren Studien untersucht werden. Klinische Daten zeigen, dass Frauen mit schwerer Mitralklappeninsuffizienz länger im Sinusrhythmus bleiben, aber unter stärkeren Herzinsuffizienzsymptomen leiden wie Luftnot, oft auch nach interventioneller Reparatur der Mitralklappe mittels MitraClip oder Cardioband. Hinweise zu einem Zusammenhang von Strain-Messung und Fibrosierung könnten einen Ansatz liefern, um Therapien zu finden, die den Geschlechterunterschieden gerecht werden“, führte Ute Seeland bei der Posterdiskussion in Padua aus.

Männliche Herzpatienten kamen während des Lockdown seltener

Wie viele Patienten mit schweren Herzkrankheiten gehen aus Angst vor einer Ansteckung mit SARS-CoV-2 nicht ins Krankenhaus, auch wenn dringend medizinische Hilfe nötig wäre. Gibt es hier Unterschiede zwischen den Geschlechtern und lassen sich besonders gefährdete Patientinnen/Patienten identifizieren?

Um diese Fragen zu beantworten, verglich das genannte Forschungsteam um Wilkenshoff, Seeland und Kolleginnen/Kollegen in einer retrospektiven Analyse [4] die Befunde von 728 Patienten, die von März 2019 bis März 2020, also ein Jahr vor dem Lockdown, in der kardiologischen Klinik der Charité am Campus Benjamin Franklin bei Heart Team-Meetings besprochen worden sind, mit den Ergebnissen von Patienten, die in dem Jahr des Lockdowns von März 2020 bis März 2021 vorgestellt worden sind. All diese Patienten benötigten eine weitere Intervention. Auffallend war, dass sich bereits vor dem Lockdown mit 38 % deutlich weniger Frauen als Männer (62 %) im Herzteam der kardiologischen Klinik vorstellten. Analysiert man die Art der Herzerkrankungen genauer, hatten insgesamt 286 Patienten – davon 110 Frauen und 176 Männer – eine Aortenklappenstenose (Verhältnis Frau : Mann [FM] = 1 : 1,6). Vor dem Lockdown waren es 53 Frauen und 97 Männer (1 : 1,8), im Lockdown 57 Frauen und 79 Männer (1 : 1,4).

Interessant ist die Beobachtung, dass im Lockdown deutlich weniger Männer mit Aortenklappenstenose im Herzteam besprochen wurden. Bei anderen Erkrankungen wie der koronaren Herzkrankheit oder der Mitralklappeninsuffizienz wurden vergleichbar viele Patienten vor und im Lockdown besprochen und auch das Geschlechterverhältnis unterschied sich nicht (FM ca. 1 : 1,3 und 1 : 1). Während des Lockdowns wurden jedoch bei KHK-Patienten interventionelle Verfahren (PCI) signifikant häufiger für Frauen als für Männer empfohlen, während bei Männern häufiger eine koronare Bypass-Operation (CABG) empfohlen wurde (p = 0,043).

Zusammenfassend zeigt die Studie, dass während des Lockdowns die Gesamtzahl der besprochenen Patientinnen und Patienten um insgesamt 24 % zurückging. Unter diesen „fehlenden“ Patienten war die Zahl der Männer doppelt so hoch wie die der Frauen. Der stärkste Rückgang während des Lockdowns wurde bei Männern mit Aortenklappenstenose beobachtet. Die Anzahl der Frauen und Männer, die mit einer KHK vorgestellt wurden, unterschied sich vor und während des Lockdowns nicht, jedoch waren die empfohlenen Verfahren signifikant unterschiedlich, mit mehr Empfehlungen zur PCI bei Frauen und mehr Empfehlungen zum CABG bei Männern.

Warum werden weniger Frauen im Heart Team besprochen?

„Es stellt sich grundsätzlich die Frage, warum insgesamt weniger Frauen im Heart Team besprochen werden sowohl vor als auch während des Lockdowns und warum die Empfehlungen zur PCI oder CABG im Lockdown bei Frauen und Männern unterschiedlich waren. Auch bleibt zu klären, warum deutlich weniger Männer mit Aortenklappenstenose während des Lockdowns die Klinik aufsuchten. Darüber könne nur spekuliert werden, sagte Wilkenshoff. Möglicherweise haben Männer sich während des Lockdowns weniger belastet und häufiger Hilfe bei der Versorgung in Anspruch genommen. Möglich wäre auch, dass sie aus Angst vor einer SARS-CoV-2-Infektion seltener das Krankenhaus aufgesucht haben, da aus den Medien bekannt war, dass es bei Männern häufiger zu schweren COVID-Krankheitsverläufe kommen kann. Als nächsten Schritt wird das Team um Wilkenshoff und Seeland die Zeit nach dem Lockdown untersuchen, um zu sehen, wie sich die Geschlechterverteilung hier verhält, ob beispielsweise vermehrt Männer mit Aortenklappenstenose vorgestellt wurden, die abgewartet haben und die dann möglicherweise ausgeprägte Befunde zeigen, oder es bei ihnen sogar vermehrt zu Einschränkungen ihrer Herzleistung durch die langandauernde Aortenklappenstenose gekommen war.

Fazit

Eine Beobachtungsstudie deutet darauf hin, dass sich der linke Vorhof bei Frauen anders an die Volumenbelastung im Zuge einer Mitralinsuffizienz anpasst als der Vorhof bei Männern.

Weitere Daten zeigen, dass herzkranke Männer während des COVID-Lockdown vermehrt der Klinik fernblieben.

Literatur-

1. 10th Congress of the International Society of Gender Medicine, Padua 16.–17.9.2022; Link zum Abstractband: https://igmitaly2022.it/wp-content/uploads/ 2022/09/IGM_Final-Programme-upd-5_9_22.pdf

2. Ute Seeland et al. P 1.17, IGM Congress 2022, Padua 16.–17.9.2022

3. Webseite der DGesGM: www.dgesgm.de

4. Ursula Wilkenshoff et al. P1.26. IGM Congress 2022, Padua 16.–17.9.2022

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