Neue ESC-Leitlinie „Diabetes“

Risikoeinschätzung-- Die ESC-Leitlinie 2023 zum Management kardiovaskulärer Erkrankungen bei Patienten mit Diabetes wartet mit einigen Neuerungen auf. Diese betreffen sowohl die Einschätzung des kardiovaskulären Risikos als auch die Therapieempfehlungen. Eine wichtige Empfehlung vorab: Alle kardiovaskulären Patienten sollen systematisch auf einen unentdeckten Diabetes gescreent werden.

Von Prof. Dr. Nikolaus Marx Veröffentlicht: | aktualisiert:
Der SCORE2-Diabetes integriert diabetesbezogene Infos und kardiovaskulären Risikofaktoren. lukszczepanski/stock.adobe.com

Der SCORE2-Diabetes integriert diabetesbezogene Infos und kardiovaskulären Risikofaktoren.

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Kardiovaskuläre Risikoeinschätzung und -kategorisierung

Bei allen Patienten mit Diabetes soll das Vorliegen kardiovaskulärer Erkrankungen und schwerer Endorganschäden evaluiert werden. Schwere Endorganschäden werden anhand der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR), der Albumin-Kreatinin-Ratio im Spontan-Urin (UACR) oder dem Vorhandensein von mikrovaskulären Erkrankungen an mindestens drei verschiedenen Stellen (z. B. Mikroalbuminurie plus Retinopathie plus Neuropathie) definiert. Patienten mit Typ-2-Diabetes (T2DM) und kardiovaskulären Erkrankungen oder schweren Endorganschäden werden als Patienten mit sehr hohem kardiovaskulären Risiko kategorisiert.

SCORE2: Neuer 10-Jahres-Risikoscore

Prof. Dr. Nikolaus Marx-- Universitätsklinikum Aachen  Marx

Prof. Dr. Nikolaus Marx-- Universitätsklinikum Aachen

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Für Patienten mit T2DM ohne atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankungen oder schwere Endorganschäden führen die neuen Leitlinien einen neuen 10-Jahres-kardiovaskulären-Risikoscore (SCORE2-Diabetes) ein. SCORE2-Diabetes integriert Informationen zu konventionellen kardiovaskulären Risikofaktoren (d. h. Alter, Raucherstatus, systolischer Blutdruck, Gesamt- und HDL-Cholesterin) mit diabetesbezogenen Informationen (d. h. Alter bei der Diabetesdiagnosestellung, HbA1c und eGFR), um Patienten in die Kategorien geringes, moderates, hohes oder auch sehr hohes kardiovaskuläres Risiko (ohne manifeste kardiovaskuläre Erkrankung) einzustufen. Angesichts der hohen Prävalenz von unentdecktem Diabetes bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen sowie dem erhöhten Risiko und den therapeutischen Konsequenzen, wenn beide Komorbiditäten gemeinsam vorliegen, empfehlen die neuen Leitlinien ein systematisches Screening auf Diabetes bei allen Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen durch Messung der Nüchternplasmaglukose oder des HbA1c-Wertes.

Therapieempfehlungen zur Reduzierung des kardiovaskulären Risikos

Die Therapieempfehlungen der neuen Leitlinie legen bei Patienten mit Diabetes besonderes Augenmerk auf den in klinischen Endpunktstudien nachgewiesenen kardiovaskulären Nutzen und/oder die kardiovaskuläre Sicherheit von blutzuckersenkenden Medikamenten. Die neue Leitlinie empfiehlt, primär Wirkstoffe mit nachgewiesenem kardiovaskulären Nutzen einzusetzen und Substanzen ohne nachgewiesenen kardiovaskulären Nutzen entsprechend umzustellen oder zu ersetzen. In den letzten zehn Jahren wurden verschiedene große kardiovaskuläre Endpunktstudien mit SGLT-2-Inhibitoren, GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA) oder dem nicht steroidalen Mineralokortikoid-Rezeptorantagonisten Finerenon bei Patienten mit T2DM und hohem kardiovaskulären Risiko durchgeführt. Die Resultate dieser Studien haben die verfügbaren therapeutischen Optionen erheblich erweitert. Basierend auf den Erkenntnissen dieser Studien geben die aktuellen Leitlinien klare Empfehlungen zur Behandlung von Patienten mit T2DM und kardio-renalen Begleiterkrankungen. Bei T2DM + atherosklerotischen kardiovaskulären Erkrankungen GLP-1-RA und SGLT-2-Hemmer, bei T2DM + Herzinsuffizienz SGLT-2-Hemmer und bei T2DM + CKD SGLT-2-Inhibitoren und Finerenon.

T2DM und atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung

Bei Patienten mit Diabetes und atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung wird die Behandlung mit GLP-1-RA und SGLT-2-Inhibitoren empfohlen (Evidenzklasse IA), um das kardiovaskuläre Risiko unabhängig von der Glukosekontrolle und zusätzlich zur Standardtherapie, z. B. Thrombozytenaggregationshemmung, antihypertensiver Therapie und Lipidsenkung, zu reduzieren. Für die weitere Glukosekontrolle werden Metformin mit Klasse IIa und Pioglitazon mit Klasse IIb empfohlen.

Patienten mit Typ-2-Diabetes und Herzinsuffizienz

Die Leitlinie bietet neue Therapiestrategien für Patienten mit T2DM und atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung, Herzinsuffizienz oder chronischer Nierenerkrankung (CKD). jarun011/stock.adobe.com

Die Leitlinie bietet neue Therapiestrategien für Patienten mit T2DM und atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung, Herzinsuffizienz oder chronischer Nierenerkrankung (CKD).

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Eine systematische Untersuchung auf Symptome und Zeichen einer Herzinsuffizienz wird bei jedem klinischen Kontakt für alle Patienten mit Diabetes empfohlen. Basierend auf Daten großer klinischer Studien wird empfohlen, dass Patienten mit T2DM und chronischer Herzinsuffizienz, unabhängig von der linksventrikulären Auswurffraktion, mit einem SGLT-2-Inhibitor behandelt werden, um Krankenhausaufenthalte wegen Herzinsuffizienz oder kardiovaskulären Tod zu reduzieren (Klasse IA). Für eine weitere Glukosekontrolle werden mit Klasse IIa empfohlen GLP-1-RA, Sitagliptin/Linagliptin, Metformin und Insulin glargine/Insulin degludec. Mit Klasse III werden nicht empfohlen Pioglitazon und Saxagliptin.

Typ-2-Diabetes und chronische Niereninsuffizienz

Ein spezielles Kapitel wurde für das Management des kardio-renalen Risikos bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz (CKD) und Diabetes aufgenommen. Es wird empfohlen, dass alle Patienten mit Diabetes routinemäßig auf das Vorliegen einer CKD durch Messung der glomeruläre Filtrationsrate (eGFR nach CKD-EPI) und der Albumin-Kreatinin-Ratio (UACR) gescreent werden. Bei Patienten mit T2DM und CKD wird eine Klasse-I-Empfehlung für SGLT-2-Inhibitoren und Finerenon gegeben, um das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und Nierenversagen zu reduzieren (Klasse IA).

Risikobewertung für Patienten mit T2DM-- Blutzuckersenkende Therapie zur Verringerung des kardiovaskulären Risikos.ASCVD = atheriosclerotic cardiovascular disease, T2DM = Diabetes mellitus Typ 2. Marx

Risikobewertung für Patienten mit T2DM-- Blutzuckersenkende Therapie zur Verringerung des kardiovaskulären Risikos. ASCVD = atheriosclerotic cardiovascular disease, T2DM = Diabetes mellitus Typ 2.

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Vorhofflimmern-Screening bei Diabetes

In den 2023er-Leitlinien findet sich auch eine Änderung der Empfehlungen zum Vorhofflimmern-Screening bei Diabetes. Das opportunistische Screening auf Vorhofflimmern durch Pulsprüfung oder EKG hat nun eine Empfehlung der Klasse I für Patienten mit Diabetes im Alter von ≥ 65 Jahren. Da Patienten mit Diabetes bereits in jüngerem Alter häufiger Vorhofflimmern aufweisen, wird in der neuen Leitlinie das Konzept des opportunistischen Vorhofflimmern-Screenings durch Pulsprüfung oder EKG bei Patienten mit Diabetes < 65 Jahren eingeführt – insbesondere wenn andere Risikofaktoren vorliegen (Klasse-IC-Empfehlung). Die Betreuung von Patienten mit Diabetes und kardiovaskulären Erkrankungen erfordert einen interdisziplinären Ansatz, der Gesundheitsfachkräfte verschiedener Disziplinen und Fachgebiete einbeziehen sollte. Ziel ist es, gemeinsame Entscheidungsprozesse zu unterstützen und eine patientenzentrierte und personalisierte Behandlungsstrategie zu implementieren, um so die Krankheitslast jedes einzelnen Patienten zu reduzieren und die Prognose zu verbessern.

Fazit

Die wesentlichen Neuerungen der ESC Leitlinie 2023 gegenüber der Version von 2019 beinhalten

eine verbesserte kardiovaskuläre Risikoeinschätzung bei Patienten mit Typ-2-Diabetes (T2DM) mithilfe eines neuen Scores (SCORE2-Diabetes)

sowie evidenzbasierte und personenzentrierte Therapiestrategien für Patienten mit T2DM und atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung, Herzinsuffizienz oder chronischer Niereninsuffizienz.

Kontakt-- Prof. Dr. Nikolaus Marx, Universitätsklinikum Aachen, RWTH Aachen, nmarx@ukaachen.de

Literatur-- 1. Marx N et al. Eur Heart J 2023; https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehad192

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