Interview mit Prof. Rassaf
Wenn aus Work-Life-Balance ein Kontinuum wird
Ausgeglichenheit-- Eigentlich arbeiten wir doch im schönsten Beruf der Welt – warum können also hohes Arbeitspensum und private Zufriedenheit nicht Hand in Hand gehen? Prof. Rassaf erklärt im Interview, inwieweit das auch eine Frage der Einstellung ist, und welche Vorbildfunktion Führungskräfte dabei haben.
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Im Gleichgewicht bleiben-- Die richtige Schnittmenge verschiedener Aufgaben und Belastungen kann zum Ausgleich beitragen
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Viele junge Ärztinnen und Ärzte empfinden die eigene Arbeitsbelastung als zu hoch, nicht wenige sehen dadurch ihre Lebensqualität herabgesetzt oder kokettieren gar mit einem Berufswechsel.
Auf der anderen Seite bietet der Arztberuf so viele spannende Facetten, dass wir eigentlich die glücklichsten Menschen der Welt sein müssten. Insbesondere in den aktuellen weltweiten Krisenzeiten haben Mediziner in Deutschland größte Auswahlmöglichkeiten beim Arbeitsplatz und leiden nicht wie in anderen Branchen unter Einkommensverlusten.
Warum trennen wir also gefühlsmäßig häufig so strikt zwischen Beruf und Freizeit, statt beide Lebensbereiche in eine Symbiose zu überführen? Prof. Tienush Rassaf ist bereits in jungen Jahren Ärztlicher Direktor der Klinik für Kardiologie und Angiologie am Westdeutschen Herz- und Gefäßzentrum der Universitätsmedizin Essen geworden und blickt mit einem interessanten Ansatz auf diese Frage.

Prof. Dr. Tienush Rassaf, Universitätsklinikum Essen
© Rassaf
Lieber Herr Professor Rassaf, mit welchen Gedanken verfolgen Sie aus Sicht eines Klinikdirektors die zunehmende Unzufriedenheit junger Kolleginnen und Kollegen mit ihrer Work-Life-Balance?
Tienush Rassaf: Grundsätzlich wird die Diskussion um die „Work-Life-Balance“ in der Medizin viel zu negativ geführt. Dieser Begriff suggeriert, dass unsere Arbeit der privaten Zufriedenheit im Wege steht, berücksichtigt jedoch in keiner Weise, welch tollen Beruf wir ausüben dürfen. Natürlich verlangt unsere Tätigkeit mehr als viele andere ein Streben nach fachlich intellektueller, und je nach Bereich manueller Perfektion, die im Erwerben einen hohen Zeitaufwand verlangt. Wir streben aber doch für unsere Patientinnen und Patienten nach Perfektion, die sonst unter mangelnden Fähigkeiten leiden würden.
Interpretiere ich Ihre Worte dahingehend richtig, dass Berufsanfänger am Anfang ein hohes Arbeitspensum als Investition in ihre spätere medizinische Qualifikation akzeptieren und annehmen sollten?
Im medizinischen Werdegang gibt es am Anfang kritische Phasen, in denen ich aus intrinsischer Motivation ein besonderes Maß an Leistung und Motivation zeigen muss. Hier wird es immer wieder Momente mit langen Arbeitszeiten geben, um die Abläufe besser kennenzulernen oder sich Wissen, beziehungsweise praktische Fähigkeiten anzueignen.
Sie sprechen diesbezüglich jedoch nur von Phasen, oder?
Genau. Grundsätzlich braucht jeder von uns genügend Raum für seine Familie, eine bewusste bzw. gesunde Ernährung und Sport, um dauerhaft gut zu sein. Insbesondere Führungskräfte müssen dies vorleben.
Sitzen meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich nicht gerade in Entwicklungsphasen befinden, regelmäßig bis spät abends in der Klinik, muss ich darüber nachdenken, ob ich alles richtig gemacht habe, da ich keine passenden Strukturen geschaffen habe. Welches berufliche Pensum letztlich zu viel ist, hängt individuell auch davon ab, wie mit Rückschlägen umgegangen werden kann.
Könnten Sie die eben genannte Vorbildfunktion ihrer leitenden Ärztinnen und Ärzte genauer erklären?
Nur, wenn ich ausgeglichen zur Arbeit komme und meinen Stress nicht an jüngeren Kolleg*innen auslasse, begeistere ich diese für unseren Beruf und eine klinische oder wissenschaftliche Karriere. Erscheine ich jeden Tag unausgeglichen, frustriert, mit tiefen Augenringen, möchte doch niemand meinen Weg nachahmen.
Sie haben anfangs mit großer Begeisterung über den Medizinberuf gesprochen…
In unserem Beruf sind wir als Ärztinnen und Ärzte wirklich privilegiert. Insbesondere in großen Zentren finden neuste Verfahren bzw. Techniken ihre Anwendung, dürfen wir viel gestalten und erfahren überwiegend große Dankbarkeit von anderen Menschen.
Wer ein großes wissenschaftliches Interesse besitzt, kann über Förderprogramme oder Stipendien teilweise Vollzeit über mehrere Jahre forschen. Selbst bei plötzlich wechselnden Interessen stehen uns alle Türen offen – von verschiedenen Fächern und Klinikgrößen bis zur Niederlassung oder gar Tätigkeiten in Industrie und Politik.
Lassen Sie uns abschließend noch einmal zu Ihrer initialen Kritik am „Work-Life-Balance“-Begriff zurückkommen. Welche Beschreibung trifft in ihren Augen besser zu und wie praktizieren Sie selbst den Spagat zwischen Karriere und Privatleben?
„Work“ und „Life“ sind ein Kontinuum. Natürlich arbeite ich mit entsprechender Begeisterung sehr viel, aber ich zehre auch von meiner Familie – die übrigens komplett erdet – meinen Freunden und meinem Sport.
Doch egal ob Wochenende oder Urlaub, es müssen halt täglich mindestens zwei bis drei Stunden berufliche Dinge abgearbeitet werden – ohne Stressempfinden. Eine komplette Trennung von Beruf und Freizeit kann ich nicht nachvollziehen. Stress würde bei mir entstehen, wenn ich in Phasen längerer Freizeit partout auf jede Form von Arbeit, E-Mails usw. verzichten würde. Das geht einfach ab einem gewissen Stadium nicht mehr, aber das ist nicht nur in der Medizin so, sondern das trifft auch auf andere Berufe zu.
Vielen Dank für das Gespräch!