Interview

„Ärzte und Ärztinnen müssen lernen, sich schneller Hilfe zu suchen“

Psychische Gesundheit-- Eine Studie von Sharma et al. (s. Kasten) hat die Prävalenz und Bedeutung von psychischen Problemen bei Kardiologinnen und Kardiologen in einer Onlineumfrage untersucht. Die Zahlen sind erschreckend hoch. Prof. Petra Beschoner, Expertin für Ärztegesundheit, schildert, was Ärzte und Ärztinnen krank macht, wie Hilfen gestaltet sein können, und wie sich jeder selbst schützen kann.

Ein Interview von Carola Göring Veröffentlicht:
Psychische Belastungen betrafen in einer Studie jeden vierten Kardiologen/jede vierte Kardiologin.

Psychische Belastungen betrafen in einer Studie jeden vierten Kardiologen/jede vierte Kardiologin.

© Wavebreakmedia / Getty Images / iStock(Symbolbild mit Fotomodell)

Prof. Dr. Petra Beschoner-- Chefärztin für Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum Christophsbad, Göppingen.

Prof. Dr. Petra Beschoner-- Chefärztin für Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum Christophsbad, Göppingen.

© Beschoner

Die Autoren finden, dass jeder vierte Kardiologe psychische Probleme entwickelt. Haben Sie diese Umfrageergebnisse überrascht?

Prof. Petra Beschoner: Ich beschäftige mich mit dem Thema Ärztegesundheit als Forschungsschwerpunkt seit Mitte der 2000er Jahre durchgehend. Unsere eigenen Erhebungen und eine Vielzahl anderer Studien zeigen eine hohe Prävalenz psychischer Belastungen bei Ärztinnen und Ärzten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Die von Garima Sharma et al. berichteten Zahlen reihen sich sozusagen in die vorhandene Datenlage ein.

Was sind neue und wichtige Erkenntnisse dieser Studie?

Die Studie hat weltweit Daten einer sehr großen Kohorte erhoben. Das Spannende daran ist, dass es nur den Fachbereich der Kardiologie betrifft. Interessant sind auch die gefundenen regionalen Unterschiede. Während zum Beispiel die Prävalenz psychischer Probleme von Kardiologen in den USA und den EU-Staaten mit ca. 26 % ähnlich hoch sind, werden im mittleren Osten mit 20 % deutlich geringere Prävalenzzahlen berichtet. Die Daten liefern uns jedoch noch keine Hinweise auf mögliche Ursachen.

Erschreckend ist das Ergebnis, dass betroffene Kardiologen viel zu selten Hilfe suchen – und das gilt nicht nur für Kardiologen. Ärzte und Ärztinnen tun sich sehr schwer, Hilfe anzunehmen. Das ist ein extrem wichtiges, aber zu wenig beachtetes Thema, das mir und meinem Kollegenkreis sehr am Herzen liegt. Ärztinnen und Ärzte müssen lernen, sich eigene Hilfsbedürftigkeit einzugestehen und Unterstützung anzunehmen.

Wie sind diese hohen Zahlen und Befunde einzuordnen?

In dieser Studie wurden sog. Mental Health Conditions (MHCs), also psychische Probleme erhoben. Das ist einerseits spannend, andererseits wurden die Daten nicht mit standardisierten Instrumenten erhoben, was es schwer macht, sie mit anderen Ergebnissen zu vergleichen.

In der Studie wurden Geschlechterunterschiede gefunden. Welche sind wichtig und wie repräsentativ sind diese angesichts der TN-Zahlen von 77,4 % Männer und 22,6 % Frauen?

Repräsentativ sind sie sicher nicht, aber sie reihen sich in die aktuelle Datenlage ein. Wir sehen tatsächlich bei Ärztinnen im Vergleich zu den Ärzten eine höhere Belastung, sowohl bei Depressivität, Burnout und Ängsten als auch beim Auftreten von Suizid-Gedanken und -handlungen.

Was macht Ärzte krank? Genauer gefragt, welche strukturellen Faktoren und welche persönlichen Faktoren können zu psychischen Problemen führen?

Was sich immer wieder abzeichnet – auch in dieser Publikation – sind die sog. Gratifikationskrisen, also die als zu gering erlebte Anerkennung angesichts der hohen beruflichen Anforderungen. Das verursacht Stress und kann zu psychischen Erkrankungen führen. Im medizinischen Bereich erleben Ärzte und Ärztinnen z. B. das Gefühl, nicht wertgeschätzt zu werden, weil sie unglaublich viel Zeit mit „Nonsense“-Bürokratie verbringen müssen. Weiter führen hohe Dienstbelastung, unflexible Arbeitszeitmodelle und zu wenig Personal zu Stress. Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielt zunehmend eine große Rolle beim Stresserleben. Da nach wie vor der Hauptteil der Care-Arbeit für Kinder, Angehörige und Haushalt in Deutschland auf den Frauen lastet, sind Ärztinnen von dieser Doppelbelastung am Ende meist stärker betroffen als Ärzte und werden in der Folge häufiger krank. Das alles ist relativ gut untersucht. Aber, nicht jede Ärztin und jeder Arzt wird in diesem System krank.

Prävalenz und berufliche Auswirkungen psychischer Erkrankungen bei Kardiologen

Hintergrund-- Psychische Erkrankungen bei Ärzten und Ärztinnen sind ein zunehmendes Problem, das sich auf die Qualität der Patientenversorgung auswirkt. Es gibt nur wenige Daten zur psychischen Gesundheit bei Kardiologen.

Frage-- Wie häufig sind psychische Probleme bei Kardiologen und gibt es einen Zusammenhang mit dem Beruf?

Methode-- Das American College of Cardiology (ACC) hat 2019 eine weltweite Online-Umfrage unter 5.931 Kardiologen durchgeführt. Analysiert wurden Daten zu Demografie, Tätigkeit, psychischen Problemen und Assoziation mit beruflichen Aktivitäten.

Wichtige Ergebnisse-- Weltweit leidet 1 von 4 Kardiologen an einer selbstberichteten psychischen Problematik bis hin zu schwerer psychiatrischer Störung. Zu den Prädiktoren für psychische Probleme gehörten emotionale Belästigung (OR: 2,81), Diskriminierung (OR: 1,85), Scheidung (OR: 1,85) und Alter <55 Jahre (OR: 1,43). Bei Frauen war die Wahrscheinlichkeit höher als bei Männern, in den letzten 12 Monaten an Suizid zu denken (3,8 % vs. 2,3 %), sie suchten jedoch auch häufiger Hilfe (42,3 % vs. 31,1 %) (alle p < 0,001). Fast die Hälfte der Kardiologen, die über psychische Probleme berichteten (44  %), fühlten sich in mindestens einer beruflichen Hinsicht unzufrieden, genannt wurden u. a. mangelnde Wertschätzung, unfaire Behandlung und nicht-angemessenen Vergütung.

Bedeutung-- Die hohe Prävalenz zeigt, dass gezielte Präventions- und Behandlungskonzepte erforderlich sind.

Einschränkung-- Nicht repräsentativ für die Gesamtheit der Kardiologen, da nur in der ACC-Datenbank eingetragene Kardiologen befragt wurden.

Studie von Garima Sharma et al. J Am Coll Cardiol 2022,https://doi.org/10.1016/j.jacc.2022.11.025

Damit stellt sich die Frage nach den intrinsischen krankmachenden Faktoren.

Dazu gehört das Overcommitment also Verausgabungs-Neigung. Die ist bei Ärztinnen und Ärzten wie anderen helfenden Berufsgruppen hoch. Was auch zunehmend untersucht wird, sind frühen Erfahrungen, die späteres Verhalten oder Einstellungen von Menschen prägen. Hier sehen wir bei vielen Ärztinnen und Ärzten eine hohe Ausprägung von den sog. frühen maladaptiven Schemata „unerbittliche Ansprüche an sich selber“ und „Selbstaufopferung“. Wer glaubt, extrem viel leisten und aushalten zu müssen und sich selbst total in den Hintergrund stellt, neigt stärker zu emotionaler Erschöpfung als andere. Dies führt sukzessive zu körperlichen oder psychischen Symptomen bis hin zu Erkrankungen.

Wie unsere Arbeitsgruppe im Rahmen von Untersuchungen zu Auswirkungen der Coronapandemie zeigen konnte, können auch sog. Adverse Childhood Experiences (ACEs) zu emotionaler Erschöpfung und eventuellen Folgeerkrankungen führen. Ärzte, die belastende Kindheitserfahrungen gemacht haben, wie Trennung der Eltern, ein psychisch erkranktes Elternteil oder eigene Gewalterfahrung als Kind, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, emotional zu erschöpfen, Stress zu erleben und letztlich daran zu erkranken.

Gibt es Unterschiede zwischen niedergelassenen und in Kliniken angestellten Ärzte:innen?

Wir haben diese Frage in unseren Datensätzen zwar mituntersucht, können aber dazu bislang keine belastbaren Aussagen machen.

Was sind Resilienzfaktoren, die vor der Entwicklung psychischer Probleme schützen?

Das Kohärenzgefühl ist ein sehr wichtiger Resilienzfaktor. Dieses Gefühl, „das, was ich mache, macht einen Sinn“, schützt vor beruflichem Stress und somit auch den möglichen Folgeerkrankungen. Das ist gut untersucht und unsere Arbeitsgruppe konnte kürzlich zeigen, dass dies auch für Ärztinnen/Ärzte zutrifft.

Ein zweiter wichtiger Resilienzfaktor ist die soziale Unterstützung, die auch bei Ärztinnen und Ärzten eine erhebliche Rolle spielt. Wer in ein gutes soziales Netz eingebunden ist, hat einen gewissen Schutz vor Stress und resultierenden psychischen Erkrankungen. Hinweise darauf geben auch die Ergebnisse der Studie von Sharma, die weniger psychische Belastung bei Ärztinnen und Ärzten gefunden haben, die in Partnerschaft leben. Etwas überraschend haben unsere Studien gezeigt, dass auch Kinder eher ein protektiver Faktor sind, obwohl sie eine Doppelbelastung mit ich bringen.

Im Rahmen unserer Corona-Untersuchungen konnten wir ebenfalls bestätigende Hinweise auf die Wirksamkeit dieser beiden Resilienzfaktoren herausarbeiten: Das sind einmal ausreichend lange Erholungszeiten und das Gefühl, sich auf Kollegen verlassen zu können. Vor allem letzteres scheint sehr stabilisierend auf Ärzte zu wirken.

Ganz praktisch gesehen, braucht es, wenn Kolleginnen oder Kollegen betroffen sind, schnelle und gute Lösungsmöglichkeiten. Was hilft?

Grundsätzlich müssen die Vorgesetzten für das Thema „gesunde Führung“ sensibilisiert sein oder werden. Konkret sollten Vorgesetzte wissen, wie sie ihre Mitarbeitenden dabei begleiten können, im Arbeitsalltag gesund zu bleiben. Dazu gehört, nicht wegzuschauen, wenn ein Mitarbeitender unter psychischer Belastung zu leiden scheint. Vielmehr ist es nötig, diesen Eindruck anzusprechen. Das ist sozusagen „erste psychische Hilfe“. Weitere Hilfsangebote gibt es von einigen Ärztekammern. (z. B. ein Angebot der Ärztekammer Nordrhein: www.aekno.de/aerzte/hilfsangebote)

Wenn wir die Strukturen verbessern wollen, müssen wir die Personaldecke erhöhen.

Einige Arbeitgeber, sprich Klinken, haben inzwischen sog. psychosomatische Sprechstunden für die Mitarbeiter etabliert. Dabei handelt es sich um niederschwellige Beratungsangebote im Rahmen des betriebsärztlichen Dienstes. Der Hintergedanke dabei ist, dass ein Termin beim Betriebsarzt als Routinesache angesehen wird und der Betroffene sich damit nicht gleich als „psychisch belastet“ im Kollegenkreis outen muss.

Weiter brauchen wir Therapieangebote, die speziell auf Ärztinnen und Ärzte zugeschnitten sind. Denn für Ärzte ist der dazu notwendige Rollentausch „vom Helfer zum Hilfsbedürftigen“ oftmals sehr schwierig, ebenso schwierig ist die Selbststigmatisierung. Hier gibt es spezialisierte Kliniken, wie die Oberbergkliniken. Ein ganz auf Ärztinnen/Ärzte und Psychotherapeuten zugeschnittenes Konzept bietet die Klinik Kloster Dießen.

Können Sie einen erfolgreichen „Lösungsweg“ an einem konkreten Beispiel verdeutlichen?

Ich kenne z. B. einen Arzt, der mit einer bipolaren Störung schwer psychisch erkrankt ist. Dieses „drüber sein“ war für alle Kolleginnen und Kollegen eine enorme Herausforderung. Es galt dies wahrzunehmen und dann feinfühlig zu thematisieren. Tatsächlich war die direkte Vorgesetzte sensibilisiert für psychische Erkrankungen und hat schnell mit der obersten Klinikleitung beratschlagt, wie damit umgegangen werden kann. So wurde der Betroffene gut unterstützt, sich Hilfe zu suchen. Er war relativ lange krank und in Therapie und ist jetzt wieder gesund. Er konnte gut wieder eingegliedert werden und arbeitet nach wie vor auf der gleichen Stelle. Allerdings hat er im Sinne einer Rückfallprävention seine Arbeitszeit und damit seine Belastung reduziert und ist aus dem Dienstmodell herausgenommen. Das Beispiel zeigt, dass es konstruktive „Lösungswege“ gibt, sofern der Arbeitgeber entsprechende Bedingungen schafft.

Was sind wirksame Präventionsmaßnahmen?

Auf der individuellen Ebene sind die erwähnten Resilienzfaktoren wichtig. Ärztinnen und Ärzte sollten lernen – wenn sie es nicht schon können – eigene Grenzen wahrzunehmen und diese auch anzuerkennen und einzuhalten. Auf der institutionellen Ebene lohnt sich mit Blick auf die Bürokratie die Frage, wo die Prozesse etwas verschlankt werden können. Bei den Arbeitszeitregelungen sollten moderne Modelle etabliert werden, welche die Bedürfnisse und nach mehr Teilzeitstellen und einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf berücksichtigen.

Es wird ja derzeit schon einiges getan, um z. B. Arbeit und Familienleben kompatibler zu machen – wie schätzen Sie diese Maßnahmen ein?

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Ich beobachte zunehmend, dass sich Kolleginnen und Kollegen auf Stellen bewerben, aber keine Wochenend- und Nachtdienste machen wollen. Aber wir können mit den besten Arbeitszeitmodellen weder Wochenend- noch Nachtarbeit abschaffen, denn die Patientinnen und Patienten sind rund um die Uhr da. Mir stellt sich da die Frage, ob den Bewerben bewusst war, welchen Beruf mit welchen dazugehörigen „Zumutungen“ sie gewählt haben. Da braucht es einfach eine gewisse Bereitschaft.

Nur ein gesunder Arzt/eine gesunde Ärztin ist auch ein guter Arzt/gute Ärztin!

Trotzdem sind die „Arbeitszeiten“ ein Punkt, an dem noch nicht genug getan wird. Nehmen wir das erwähnte Beispiel, dass eine ausreichende Erholungszeit nach der Arbeit vor psychischer Überlastung schützt. Gibt es mehr Personal, verteilt sich die Arbeit auf mehrere Schultern und damit werden auch die Nacht- und Wochenendschichten seltener. Insgesamt sind so längere Erholungszeiten möglich. Kolleginnen und Kollegen können nach dem Dienst tatsächlich nach Hause gehen, was im Alltag trotz Arbeitszeitgesetz usw. nicht immer so möglich ist. Bildlich gesprochen verhält es sich mit der momentanen Personaldecke wie mit einer zu kurzen Tischdecke: Zieht man an einem Ende, fehlt es am anderen. Wenn wir ernsthaft strukturelle Verbesserungen herbeiführen wollen, führt kaum ein Weg an einer besseren personellen Ausstattung vorbei.

Was ist Ihre Take-Home-Message an die Kardiologen und Kardiologinnen – egal ob sie Top-Führungskraft oder in der Ausbildung sind?

Nur ein gesunder Arzt/eine gesunde Ärztin ist auch ein guter Arzt/eine gute Ärztin! Die psychische Gesundheit von Ärzten ist nachgewiesenermaßen ein Qualitätsindikator für die Arbeit, die sie leisten. Was hier jeder – sowohl in der Führungs- als auch auf der Assistenzarzt-Ebene – für sich mitnehmen kann: Jedes „Nein“ an der einen Stelle ist gleichzeitig ein „Ja“ an einer anderen Stelle. Wir tun uns oft schwer, eine zusätzliche Aufgabe abzulehnen. Eine solche Ablehnung ist jedoch gleichzeitig eine Bejahung von mehr Selbstfürsorge, im Sinne von „ich sorge dafür, dass ich gesund und arbeitsfähig bleibe“.

Vielen Dank für das Gespräch!

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